Internetvideo der Woche:Wir nehmen Ihrer Zukunft das Zuhause

Sind Häuser am schönsten, wenn sie gesprengt werden? Das Ende des Münchner Agfa-Hochhauses und eine missglückte Sprengung in der Clip-Kritik.

Christian Kortmann

Ich wohne in München-Untergiesing, direkt unter dem sogenannten Giesinger Berg. Der ist eigentlich nur eine Bodenwelle, denn die Dächer der hohen Häuser von Untergiesing erreichen das Erdbodenniveau von Obergiesing. So fügt sich der Panoramablick vom Balkon zu einer Silhouette mit beinahe einheitlicher Risthöhe: Neben der bei Föhn sichtbar werdenden Alpenkette wird sie vom Fußballstadion an der Grünwalder Straße dominiert. Die Betonklötze drumherum sind nicht gerade Münchens architektonische Highlights und verschwimmen zu einer Masse aus Grauwerten.

An einem Sonntag im Februar dieses Jahres erfuhr ich abends in den "Tagesthemen", dass tagsüber einer dieser Grauwert-Klötze gesprengt worden war: Das Agfa-Hochhaus, dezent-dominant wie ein etwas markanterer Felsen im Felsenmeer, war vom Mini-Wolken- zum Bodenkratzer verwandelt worden, und ich hatte es nicht gehört. Da musste ein sehr rücksichtsvoller Sprengmeister am Werk gewesen sein, der sich eines besonders schonenden Sprengverfahrens bediente. Sofort überprüfte ich die Silhouette vor dem Abendhimmel: Tatsächlich, sie stimmte nicht mehr, erinnerte vielmehr an einen Blick in den Spiegel mit frisch gezogenem Schneidezahn.

Zu diesem Zeitpunkt gab es bei YouTube längst zahlreiche Amateuraufnahmen der Agfa-Sprengung. Aus verschiedensten Blickwinkeln konnte man das Gebäude in den Internetvideos einstürzen sehen. Der schönste Clip heißt "AGFA Hochhaus München Sprengung". Gelungen ist er vor allem deshalb, weil er nicht nur den Moment des großen Knalls, sondern auch das Warten der 15.000 Schaulustigen vor der Sprengung zeigt.

Und zwar im moderat epischen Maß einer Schweigeminute, die nicht langweilig ist, sondern die Spannung steigert. Selbstverständlich will man nicht die Stunden des die Beine-in-den-Bauch-Stehens nacherleben, doch jede Sprengung hat einen logistischen Vorlauf, ohne den sie nicht komplett dargestellt wäre: die Entscheidung, die Vorbereitung des entscheidenden Augenblicks und nicht zuletzt die Anreise der Zuschauer.

Das Hauptdarstellerhaus steht vorm münchenblauen Himmel am Horizont - es überragt die Häuser im Vordergrund sogar aus der Ferne. Die mit Menschen gefüllte Straße, ihr Murmeln eines ungewissen Countdowns ("Gleich passiert's ...") und die Fokussierung aller Blicke auf ein entferntes Ziel erinnern an das Warten auf einen Raketenstart: Cape-Canaveral-Atmosphäre in Obergiesing. Im Moment der Explosion reißen viele der Zuschauer Mobiltelefon- und Digitalkameras hoch, man erkennt hier die luxuriöse Ausstattung der Bevölkerung mit medialer Hardware, die die kollektive Gegenwartsdokumentation im Netz ermöglicht.

Die Bilder vom Einsturz des Gebäudes erreichen das Auge einen Sekundenbruchteil eher als der Schall das Ohr. Am Ende macht die Kamera einen 360-Grad-Schwenk, der auf der Explosionswolke zur Ruhe kommt: Unter Begeisterungsrufen der Zuschauer ist streng geordnete Materie zu Staub geworden.

Im Vergleich zur Dauer der Bauarbeiten geht so etwas verblüffend schnell. Der Clip "Anatomy of a Building Implosion" zeigt das Vergnügen, das man an Sprengungsbildern findet, deshalb in Zeitlupe, wie damals Michelangelo Antonioni, der am Ende von "Zabriskie Point" ein Wohnhaus in einem Pink-Floyd-Urknall in Atome zerlegte. Solches Rückbauen ist faszinierender als die fast immer lahmen Einweihungspartys, bei denen es vor allem darum geht, nichts schmutzig zu machen.

So werden in Las Vegas, wo kurze Zyklen architektonischen Werdens und Vergehens zum Lebensgefühl gehören, Sprengungen gerne als Volksfest mit Feuerwerk inszeniert. Im Moment der Implosion feiert der Mensch sich als Dynamit-Designer, als Schöpfer und Vernichter der Materie. In "Anatomy of a Building Implosion" wird der Einsturz rückwärts gezeigt, als stünde sogar solches Reverse Engineering in unserer Macht. Jeder Sprengungsstaubwolke ist schon der zukunftsgerichtete Spruch eingeschrieben: Da bauen wir etwas Neues, Besseres hin!

Deshalb darf niemals das geschehen, was der Clip "Failed Building Implosion" dokumentiert: Ein Gebäude, das nicht fachmännisch entmaterialisiert, sondern nur ein Stockwerk tiefer gelegt wird, raubt den Menschen den Glauben an ihre Schaffenskraft. Das schöpferische Tabula-rasa-Fest gerät zur Lachnummer, vor allem, wenn der Ereignischarakter seiner Sprengung mit einem Plakat, auf dem "BOOM!" steht, angekündigt wurde.

Das "Leben der Anderen" kommt nach Hannover: Am Dienstag, dem 25. März 2008, um 20 Uhr stellt Christian Kortmann im Literarischen Salon der Universität Hannover die besten Internetvideos vor und diskutiert mit Mathias Mertens über aktuelle Netzphänomene.

Die Kolumne "Das Leben der Anderen" erscheint jeden Donnerstag auf sueddeutsche.de. Bookmark: www.sueddeutsche.de/lebenderanderen

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