Internetvideo der Woche:Verblüffendes Rehaktionsvermögen

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Bambi aus der Katzentür: Wenn wilde Tiere an völlig unerwarteten Orten auftauchen, stellen Menschen die seltsamsten Dinge an. Die Clip-Kritik.

Christian Kortmann

Die beliebte Nachricht vom Tier am ungewöhnlichen Ort, wie dem Alligator in der New Yorker Toilette oder dem Elefanten in der Wuppertaler Schwebebahn (der dann auch noch aus der Bahn in die Wupper fällt), hat mühelos den Transfer in das Medium Internetvideo geschafft. Hier hat sie sogar eine neue Qualität entwickelt, weil es nicht beim kolportierten Mythos bleibt, sondern verblüffende Beweisbilder gezeigt werden können.

Im Clip "Look who's coming to play" wurde der Moment der tierischen Überraschung festgehalten: Als die Klappe der Katzentür zum zweiten Mal aufgeht, windet sich - halb Schlangenmensch, halb Limbotänzer - ein Kitz geübt hindurch. Es entfaltet sich aus dem schwarzen Quadrat, als handele es sich um einen Spezialeffekt; als sei diese Klappe ein Sinnbild für das Flash-Player-Fenster der Internetvideos, deren Faszination ja eben darin liegt, dass der Zuschauer anders als im Kino oder im Fernsehen immer damit rechnen darf, etwas zu sehen, von dem er zuvor nicht wusste, dass es das überhaupt gibt.

Wie eben Kitze, die Katzen in ihre Wohnungen folgen und das Freigänger-Prinzip umkehren. Als Showbusiness-Naturtalent weiß Bambi genau, was zu tun ist, und marschiert mit Schwung auf die Kamera zu. Was will es in der Wohnung? Vielleicht ist das Kitz einfach neugierig, vielleicht hat die Katze ihm erzählt, dass es heute ganz und gar vegetarischen Milchreis gibt.

Wenn die Zeitangaben im Timer der Kamera stimmen, sind diese Aufnahmen mehr als zehn Jahre alt, und der zeitliche Ablauf könnte ein anderer gewesen sein. Doch 1999 gab es noch kein Publikum für diese Geschichte, jetzt, da Haus- und Wildtiervideos längst ein eigenes Genre bilden, ist die Zeit reif.

Auch die zwei neugierigen Füchse, die im Clip "Foxes Jumping on my Trampoline" ein Trampolin entern, haben ihre Chance im Showbusiness genutzt. Wahrscheinlich wurde das Trampolin von Eltern für ihre gelangweilten Kinder in den Garten gestellt. Nach anfänglicher begeisterter Benutzung fiel es in nachmittagsgestalterische Ungnade und ist nun ein Denkmal der Privattrampolinmode.

Die Füchse benutzen es nicht nur mit der kindlichen Freude über ein weiteres Geschenk, sondern mit dem Staunen von Entdeckern. Obwohl sich auch bei ihnen rasch Langeweile abzuzeichnen droht, als sei dieser Ennui dem Trampolinspringen immanent, scheinen sie geübte Springer zu sein. Gut möglich, dass sie öfters hierher kommen, wenn sie zwischen Grabungsarbeiten am Bau und Kleintierjagd ein paar freie Minuten haben. Sie nutzen das Turngerät kreativ als Ring für einen kleinen Kampf: Trampolin-Catchen, das wäre auch ein Spiel für "Schlag den Raab".

Diese Videos dokumentieren weniger die "Vermenschlichung" von Tieren, als dass sie zeigen, wie als "wild" bezeichnete Kreaturen die Annehmlichkeiten des menschlichen Lebens zu schätzen wissen, sofern sie denn Muße dazu haben, das heißt, sich nicht bedroht fühlen. Auch Flusspferd Jessica genießt den häuslichen Komfort, trinkt gerne Kaffee (extra süß) und deckt sich zum Schlafen zu. Zusammen mit der übrigen YouTube-Fauna erweitert Jessica unser Bild vom Tier, das nicht nur ein heranwachsender und sterbender, beziehungsweise zu schlachtender Organismus ist, sondern seine Tage mitunter spielerisch verbringt.

Das auf Produzenten- wie Konsumentenseite dank der Freizeitbeschäftigung seiner Nutzer existierende Medium Internetvideo dokumentiert auch die Freizeit der Tiere. Weltweit sind Millionen von potentiellen Tierbeobachtern mit Kameras ausgestattet. Traditionelle Tierfilmer versuchen bis heute, authentische Bilder von Tieren in ihren natürlichen Habitaten einzufangen. Doch mit der menschlichen Zersiedlung der Landschaft werden die Grenzbereiche des zivilisierten Territoriums zum Wohnraum frei lebender Tiere.

Wenn der Mensch unerwartet auf Tiere trifft, denkt er nicht an ihre Lebensrealität, sondern sieht zunächst eine Störung im Muster seiner Weltwahrnehmung. Als der Fernsehsender Fox 8 in Cleveland einen Vorfall nachstellte, bei dem ein Bär im Garten einer Frau aufgetaucht war, was diese völlig untypisch für das YouTube-Zeitalter nicht gefilmt hatte, kam jemand auf die gute Idee, den inzwischen abwesenden Bären mit einer Pappattrappe zu imitieren.

Ein Mitarbeiter musste die Pappsilhouette mit bärig wackelnden Bewegungen durch den Garten tragen, um dann in den Wald zu flüchten. Sind die ästhetischen Ketten erst mal gesprengt, wird das Riesenhasenkostüm zum Must. Sehr viel mehr als wir über einen Bären im Garten, werden die Tiere in der Gegend über diese Scharaden der Menschen gestaunt haben. "Was in Pans Namen", sagte das Reh zum Riesenhasen, "was bitte stellen sie denn nun schon wieder an?"

Die Kolumne "Das Leben der Anderen" erscheint jeden Donnerstag auf sueddeutsche.de. Bookmark: www.sueddeutsche.de/lebenderanderen

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