Internetvideo der Woche:Sensierte Filme

Was sieht der Mensch kurz vor dem Tod? Sein Leben im Schnelldurchlauf oder schmelzendes Spaghetti-Eis? Letzte Bilder in der Clip-Kritik.

Christian Kortmann

Kein Mensch weiß, wie es ist, tot zu sein. Umso mehr Ahnungen wabern im esoterischen Grenzbereich zwischen Leben und Sterben. Ein Mythos besagt, dass in den letzten Momenten vor dem Tod das ganze Leben noch einmal als Kurzfilm vor dem inneren Auge vorbeizieht. Doch die, die nach Nahtod-Erfahrungen von solchen Kopffilmen berichten, sind ja nicht gestorben. Wenn man wirklich stirbt, ist vielleicht alles ganz anders.

Das Gerücht vom letzten Film hält sich jedoch hartnäckig, weil es einen sehr weltlichen Trost spendet: Am Ende gibt sich das Leben selbst den Sinn, den man auf Erden stets vermisste, indem es sich noch einmal als runde Geschichte erzählt, so als hätte es doch immer einen roten Faden gegeben und man sei sein eigener Regisseur.

Der Clip "Last Day Dream" zeigt, wie solch eine Bilder-Bilanz aussehen könnte. Aus der Perspektive eines im Sterben liegenden Mannes läuft sein Leben in 42 Sekunden ab, nicht als Zeitraffer, sondern als Collage der ihm in diesem Moment am wichtigsten erscheinenden Stationen.

Regisseur Chris Milk setzt auf hochverdichtete Motive: Jedes Bild steht für entscheidende Abschnitte im Leben: das Laufenlernen, der erste Kuss, Drogenexperimente, Vaterschaft, das Sterben des Partners. So komprimiert ist der Stoff, dass man etwa den Polizisten, der das junge Paar im Auto überrascht, erst entdeckt, wenn man sich den Clip verlangsamt, Bild für Bild anschaut.

In der Mitte des Films wandelt sich die Perspektive: Der Sterbende sieht nicht mehr Stationen seines eigenen Reifens, sondern die seiner Kinder und Enkel. Das Video erzählt hier von einer Epoche im Lebens des Mannes, in dem sein Ego altruistisch anderen den Aufmerksamkeitsvorzug gab. Die neuerliche Nabelschau gegen Ende des Clips - der ewige Ozean, der die vergänglichen Füße umspült - ist eine biologisch unvermeidbare Folge: Es wird stiller rund ums Ich, die Verluste kommen näher, der Gedanke "Ich werde sterben" lässt sich nicht länger verdrängen.

Der Soundtrack der immer schneller aufeinander folgenden Töne erinnert an einen Countdown: "Last Day Dream" ist ein klassisches Memento mori in YouTube-Form, ein Clip, der an die Vergänglichkeit erinnert und mahnt, jeden Tag des Lebens zu nutzen.

Chris Milk stellt die Familie ins Zentrum seines Films. Man kann einen letzten Tagtraum aber auch ganz anders erzählen.

So läuft im Clip "Life before your eyes" eine deutlich hedonistischere Variante vor den Augen des Todeskandidaten ab. Ganz müde wird der Sensenmann ob der Fülle von Vergnügungen, die sein Klient gesammelt hat. Weil ihn solche Bilder nicht mehr aufrütteln können, übermannt ihn schließlich der Schlaf.

Was auch immer man unter einem erfüllten Leben verstehen mag: Die Inszenierung eines Totentanzes, die Speiseeis zum Protagonisten macht und mit dem menschlichen Leben auf den ersten Blick nichts zu tun hat, sich also von hinten anschleicht, wirkt umso stärker. Denn der Betrachter kann sich nicht durch den Gedanken, selbst ein ganz anderes Leben zu leben, distanzieren. Machen wir uns also nichts vor: Für Eis am Stiel gibt es erst recht kein Leben nach dem Tod.

Im Clip "The Death & Life of Ice Cream" schmelzen im Zeitraffer und begleitet von Schlechte-Laune-Musik verschiedenste Eissorten dahin. Von stolzen bunten Frostgebirgen verwandeln sie sich in traurige braune Matschpfützen, die ihre Verpackungen aufweichen und mit in den Abgrund reißen. Schoko-Ummantelungen zerfallen wie rostige Karrosserien auf dem Autofriedhof; Cocktailkirschen versinken wie Wüstenreisende im Treibsand. Auch die rückwärts laufenden Aufnahmen, in denen das Eis wiederaufersteht, können uns nicht trösten.

Warum nur ist es so deprimierend, schmelzendem Speiseeis zuzusehen? Das fragen sich auch die User in den YouTube-Kommentaren. Das Drama des Werdens und Vergehens umgibt uns auswegslos, auch wenn sich am ersten warmen Sommertag der erste Tropfen am Schokoladeneis verflüssigt und von der Waffel auf die Schuhe platscht. Nur von der Kälte im Zaum gehalten und stets in der Hitze konsumiert, ist Eis ein extrem labiler Stoff, notdürftiger noch die Form bewahrend als wir selbst. Der Mensch verfällt zwar deutlich langsamer, doch in kosmischen Maßstäben schmilzt auch er dahin wie ein Spaghetti-Eis in der Sonne.

Die Kolumne "Das Leben der Anderen" erscheint jeden Donnerstag auf sueddeutsche.de. Bookmark: www.sueddeutsche.de/lebenderanderen

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