Internetvideo der Woche:Schwein für gewisse Stunden

Sinnbild für Männercharakter und Wurstlieferant: Was wäre der Mensch ohne Schwein? Schweine, die tanzen und Kondome kaufen, in einer völlig versauten Clip-Kritik.

C. Kortmann

Mit Schweinen als Persönlichkeit hat der Bewohner eines westlichen Industrielandes selten zu tun. Das Tier begegnet ihm vor allem als Begriff "Schwein", mit dem eine Fleischsorte bezeichnet wird. Schließlich sind Schweine die Hauptleidtragenden des trotz aller Lebensmittelskandale ungebrochenen Hungers auf billige Fleischwaren.

Deshalb werden in Massenmastbetrieben mit mehr als 70.000 Schweinen im Sekundentakt Schinken und Grillwürstchen produziert. Zwar weiß man längst, dass Schweine zu den sozialsten und intelligentesten Säugetieren gehören, oft umgänglicher und klüger sind als Hunde, und ein Hängebauchschwein es auf die Couch von George Clooney geschafft hat. Doch für die Massenware Schwein hat dieses Wissen keine ethische Konsequenz.

Liebe auf den schwersten Blick

Erstaunlich, dass der Mensch seinen lieblos-kaltherzigen Umgang mit der Spezies nach wie vor mit einem liebevollen metaphorischen Bild des Tieres in Einklang bringt. Eigentlich steht das Schwein für die geschundene, in Gefängnisse gepferchte Kreatur, aber in seinem öffentlichen Bild herrscht ein Charakterzug vor, der eher auf Aberglauben denn auf Aufklärung beruht.

Weil das Schwein sich (wie der Fango-Wellnessmensch) im Matsch recht wohlfühlt, gilt sein Wesen als dreckig und verschlagen. Mein Biologielehrer, Landwirt, Freigeist und coole Sau, wusste es schon vor 20 Jahren besser: "Wenn mich jemand ein Schwein nennt, bedanke ich mich für das Kompliment!"

Der Clip "Banned Trojan Condoms Commercial", eine Kondomwerbung, deren Ausstrahlung von einigen Sendern abgelehnt wurde, spielt mit der Songtitel gewordenen Weisheit, dass Männer Schweine sind, also mental nur schwer aus dem Suhlbad rauskommen.

In einer Bar haben sich alle Männer wie Odysseus' Gefährten bei der Zauberin Circe auf der Insel Aiaia in Schweine verwandelt. Die Frauen schätzen zwar die nicht unamüsante Anwesenheit der Schweine, möchten auf näheren Kontakt aber verzichten. Sie wissen aus Erfahrung, dass sie nichts verpassen.

Weil sie ahnen, dass nichts laufen wird, bestellen die verzauberten Männer noch einen Drink. Wie es im unterlegten Song heißt, ist eine Romanze hier so wahrscheinlich wie ein Schwein, dem Flügel wachsen. Dass er nicht fliegen kann, weiß auch Schwein Odysseus an der Bar, aber ihm bleibt eine dreiste List. Also rafft er sich auf, geht für alle Fälle mal Kondome kaufen und durchbricht den Zauber.

In weiteren Videos werden bei YouTube beide Seiten des modernen Schweinseins ausführlich beleuchtet: das Geschlachtetwerden als Teil der menschlichen Nahrungskette und das enorme Talent des Schweineindividuums. So sieht man Schweine bei allen möglichen vermenschlichenden Tätigkeiten, doch artistische Highlights liefern sie in diesen Clips nicht. In der Tierrangliste der Internetvideos bleiben Elefanten die besten Maler, Hunde die größten Rhetoriker, beziehungsweise Skateboardfahrer und Katzen die Stuntwomen für die lustigsten Unfälle.

Doch in der hart umkämpften Disziplin, welche Tierart die süßeste ist, haben Schweine ihr Eisen im Feuer. Der Clip "baby pig ...OINK! OINK! ...OUK! OUK!" besticht vor allem durch seine Anfangsszene, die an ein Suchbild erinnert. Wer entdeckt das Schwein auf den ersten Blick? Tarnt sich seine sanft schimmernde rosafarbene Haut nicht chamäleongleich vor dem Blusenhintergrund seiner Patin?

Nicht viel größer als zwei Hände, erkundet das Schwein seine Umgebung, tastet sich vorsichtig in die Welt vor. Das Video besitzt alle Zutaten, um den Zuschauer vorm Computer "Oh, wie süß!" ausrufen zu lassen, ohne ihn jedoch daran zu hindern, wenig später beim Spanferkel in der Kantine "Oh, wie lecker!" zu befinden.

Hier bin ich Schwein, hier darf ich sein

Während man in den zahlreichen Schweinevideos aus der Amateurproduktion stöbert, stößt man plötzlich auf ein historisches Dokument der Filmgeschichte. Hier wird die Stärke von YouTube als Mischung aus tagesaktuellem Bilderüberfluss-Stausee und archivarischer Schatzkammer vor Augen geführt: "Le Cochon Danseur" ("Das Tanz-Schwein") ist ein französischer Kurzstummfilm aus dem Jahre 1907. Die Produzenten-Brüder Pathé zeigen eine Vorläuferin späterer Entertainment-Puppen wie Alf oder Miss Piggy.

Wie die Männer in Circes Bar hat auch das Tanz-Schwein sehr mit seinem Schweinsein zu kämpfen. Seine ungelenken Annäherungsversuche werden von der jungen Dame rüde abgewiesen. Und dann reißt sie ihm auch noch den Frack vom Leib, nicht aus Wollust, sondern um das Schwein bloßzustellen. Ein Alptraum, denn ein gut sitzender Anzug ist ein Exoskelett, das einem Mann Halt in unangenehmen Situationen verleiht.

Doch dann, im Tanz mit dem Feudel, findet das Schwein zu sich selbst, seine Evolution zum kultivierten Wesen beginnt. Es weiß jetzt, was es tun muss, um zu gefallen. Denn das Augenzwinkern am Ende verrät, dass echtes Schweinsein manchmal mehr Spaß macht. Mehr als hundert Jahre nach seiner Entstehung entwirft der Film "Le Cochon Danseur" ein gültiges Bild von der Kreatur Schwein in der Gesellschaft: gedemütigt, verspottet und unverstanden.

Die Kolumne "Das Leben der Anderen" erscheint jeden Donnerstag auf sueddeutsche.de. Bookmark: www.sueddeutsche.de/lebenderanderen

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