Süddeutsche Zeitung

Internetvideo der Woche:Schrank vor Eifersucht

Lesezeit: 3 min

"Dann luden sie mich auf einen Laster, und nun bin ich hier!" Wie der nackte Mann in den Schlafzimmerschrank kommt und was er dem Ehemann erzählt: die besten Ausreden in der Clip-Kritik.

Christian Kortmann

Manchmal ist man selbst schuld, wenn man belogen wird. Denn bei Entschuldigungen und Erklärungen für unangenehme Situationen gibt man sich mit den dürren Fakten meist nicht zufrieden. Die Wahrheit alleine genügt nicht, man will die Geschichte hören, die dahinter steht - also nicht nur: "Ich konnte gestern Abend leider nicht", wenn jemand aus reiner Lustlosigkeit einer Party fernblieb. Sondern eine fantasiereiche Ausrede, wie: "So ein Mist. Aber was will man machen, höhere Umstände! Meine Katze war kurzfristig schwer erkrankt."

Auch wenn der Belogene weiß, dass die Geschichte höchstwahrscheinlich erdacht ist, so stellt die Mühe des Erfinders eine gewisse Kompensation für die zuvor erlittene Zurückweisung dar. So ist jede Ausrede, die man benötigt, eine Chance, eine ungewöhnliche Geschichte für ein begieriges Publikum zu erfinden und eine unbequeme Wahrheit durch einen fesselnden mündlichen Vortrag abzudämpfen. Eine kunstvoll ausgestaltete Geschichte verwandelt die unwahrscheinlichsten Situationen in die logische Folge eines noch viel unwahrscheinlicheren Kausalzusammenhangs. "His excuses are an art / From the bottom of his heart", besang die Band The Beautiful South einen Langschläfer und seine Entschuldigungen für die chronisch verpassten Morgentermine: die Ausrede als Ausdruck existentieller Kreativität und Lebenskunst.

Solch eine wahrhaftige Ausrede trägt auch der nackte junge Mann vor, der im Werbeclip eines französischen Fernsehsenders seine Anwesenheit im Kleiderschrank einer wohl verheirateten Frau vor deren Ehemann rechtfertigen muss. Er probiert es mit der riskantesten, ja, lebensgefährlichen Variante, einer Friss-oder-stirb-Ausrede.

Sieht man den Clip zum ersten Mal, denkt man, dass das Video auf kriegerische Handlungen in einem Land aufmerksam machen soll, das von der Welt zu wenig beachtet wird. Ein wehrloser Mann wird von einer mit Maschinengewehren bewaffneten Truppe durch den Wald gejagt - einfach schlimm, wie dem Armen mitgespielt wird... Dann, als der Mann auf einen Baum flüchtet, und die Kettensäge angesetzt wird, glaubt man, dass es sich wohl doch um einen Spot gegen die Abholzung des Regenwaldes handelt. Durch die dichte Folge dieser Plot Points wird die Erwartung des Zuschauers ständig in neue Richtungen gelenkt. Hier wird scheinbar so vieles erzählt, und dann doch wieder etwas ganz anderes, dass einem so schwindlig wird wie dem Protagonisten beim Sturz in die Wasserfälle.

Als der Mann in der Möbelfabrik von der Maschine in den Schrank gepackt wird, ist man schließlich überzeugt, dass es sich um Werbung für einen Möbelhersteller handelt. Das ist der letzte Anhaltspunkt vor der Auflösung, mit der man nicht rechnen konnte: Der Clip sollte den Zuschauer so verwirren und überrumpeln wie den betrogenen Ehemann. Eine vollkommen unglaubwürdige Geschichte wird hier derart mitreißend erzählt, dass man sie tatsächlich glauben könnte. Unglaubwürdige Kleinigkeiten, wie die, dass der Mann während der Story sukzessive seine Kleidungsstücke verliert, werden in einer monumentalen Unglaubwürdigkeit versteckt und gehen im Strudel des Storytelling unter. Am Ende erkennt man, dass dieser Clip gar keine Geschichte erzählen will. Er ist Werbung für das Geschichtenerzählen selbst.

Wo bei den Ausreden echte Erzähltalente am Werke sind oder zumindest auch weniger Talentierte zu maximalen Leistungen angespornt werden, da wundert es nicht, dass sich die, die diese Ausreden und Ausflüchte täglich ertragen müssen, ein hartes Fell zulegen. Im Clip "School Answering Machine" ist der Ansagespruch eines Anrufbeantworters einer australischen Schule zu hören.

Das Lehrerkollegium, das über eine hohe Abwesenheitsrate und selten erledigte Hausaufgaben der Schüler klagt, fertigt die Ausreden, die es deswegen zu hören bekommt, auf dem Anrufbeantworter prophylaktisch ab. Eine freundlich-resolute Frauenstimme macht klar, dass sie es einfach nicht mehr hören können, warum die Kinder nicht anwesend sind oder keine Hausaufgaben gemacht haben ("Wir dachten, heute sei Sonntag!"). Vielleicht bettelt das Lehrerzimmer aber auch nur um bessere Geschichten mit mehr Action.

Bei dem Clip handelt es sich um eine Satire, die Schule gibt es, Anrufbeantworter auch, nicht aber die Ansage. Doch auch wenn diese Reaktion auf zu viele Ausreden nur in der Vorstellung existiert, ist sie ein gelungenes Denkmal für den ewigen diplomatischen Kampf, Taten und Unterlassungen durch Worte zu rechtfertigen. Man muss die Erregung in den Geschichten dahinter nur geschickt dosieren und nicht immer mit einer Verfolgungsjagd im tropischen Regenwald beginnen. Diese Kolumne zum Beispiel ist fünf Minuten zu spät erschienen, weil mein Hund das Manuskript aufgefressen hatte.

Bookmark: Die Kolumne "Das Leben der Anderen" erscheint jeden Donnerstag auf sueddeutsche.de. www.sueddeutsche.de/lebenderanderen

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.37607
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
sueddeutsche.de/korc
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.