Internetvideo der Woche:Lieber nicht liften lassen

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Ein New Yorker war 41 Stunden lang ohne Trinkwasser und Kontakt zur Außenwelt in einem Aufzug gefangen: das Zeitraffer-Video der Überwachungskamera in der Clip-Kritik.

Christian Kortmann

Manche Geschichten sind aus Stradivari-Holz geschnitzt - obwohl sie ein paar Jahre alt sind, klingt ihre Nacherzählung aufregender als die meisten neuen Stories. Das Unglück des Nicholas White ereignete sich am Freitag, den 15. Oktober 1999, im McGraw-Hill Building in New York City. Im 43. Stock arbeitet der damals 34-jährige White als Herstellungsleiter beim Wirtschaftsmagazin Business Week. Gegen 23 Uhr nimmt White den Lift nach unten, um vor der Tür eine Zigarette zu rauchen. Auf der Rückfahrt stoppt der Lift mit einem Ruck zwischen zwei Stockwerken und verwandelt die Zigarettenpause in ein episches Drama.

Drinnen vor der Tür

White betätigt die Sprechfunkanlage, keine Reaktion, White drückt den Alarmknopf, doch niemand hört ihn, White schreit um Hilfe, doch im Gebäude herrscht schon Wochenendleere. Er trägt weder Uhr noch Telefon bei sich, hat kein Trinkwasser und als Nahrung nur eine Packung Tabletten gegen Sodbrennen. Den Alarm schaltet er bald aus, weil er das Klingeln nicht mehr erträgt. Doch was, wenn jemand in Hörweite vorbeikommt? Also schaltet er den Alarm wieder ein. Die Hölle kennt die fiesesten Komplikationen. Seine Kollegen denken, White sei einfach nach Hause gegangen, und legen ihm eine vorwurfsvolle Notiz auf den Schreibtisch. 41 Stunden lang, bis zum Sonntagnachmittag, wird White auf seine Befreiung warten.

Fast neun Jahre später steht Nicholas White nun im Rampenlicht, weil das Magazin The New Yorker seine Geschichte aufgegriffen und mit dem Material der Überwachungskamera einen spektakulären Videoclip produziert hat: Whites 41-stündige Leidenszeit schmilzt im Zeitraffer zu drei von minimalistischem Klavierspiel unterlegten Minuten zusammen. Der Clip wurde bei YouTube über drei Millionen Mal angeschaut, und Tausende User haben die tapfere Leistung des unfreiwilligen Duldungskünstlers kommentiert.

Am Anfang des Videos sieht man White noch aufgeregt hin und her wuseln, zwei Stunden lang sucht er nach einem Ausweg aus dem Gefängnis. Doch die Luke an der Decke ist verschlossen, und White findet sich mit seinem Schicksal ab. Er wartet, raucht die restlichen Zigaretten, liest das Kleingedruckte auf Eintrittskarten und vergleicht Dollarscheine. White friert und schwitzt zugleich, versucht zu schlafen, benutzt die Schuhe als Kissen, das Portemonnaie als Schlafmaske.

Die Momente, in denen er aufwacht und merkt, dass dies doch kein böser Traum ist, müssen besonders unangenehm gewesen sein: "Nach einer gewissen Zeit wusste ich, dass ich in großen Schwierigkeiten steckte", sagte White dem Fernsehsender ABC. Um sich zu erleichtern, drückt er die Türen auseinander und hofft, dass dies ein Signal sein könnte: "Vielleicht hätte sich jemand gefragt: 'Warum tropft es aus dem Aufzug?'"

Intensiven Horror entfaltet der Clip, als nach 13 Stunden an den anderen Liften, die man auf dem Split Screen sieht, gearbeitet wird, ohne dass die Techniker den Gefangenen bemerken: Der Zuschauer weiß mehr als die Filmfiguren - das ist Suspense im Hitchcock-Sinn. Am Sonntagnachmittag, als White halbverdurstet deliriert, meldet sich endlich eine Stimme über Funk und fragt: "Is someone in there?" Wenn jemals jemand irgendwo drin war, dann Nicholas White.

Im Aufzug stecken zu bleiben, das ist eine von den meisten Menschen erfolgreich unterdrückte Dauerangst. Man fährt täglich Lift und hofft, dass einem so etwas nie zustoßen möge. White aber hat es in extremer Form erlebt und kann davon berichten, das macht seinen Film so populär: Eine schmerzhafte Erfahrung wird im Zeitraffer zu Entertainment.

Innerlich stecken geblieben

Am schlimmsten sei die Angst gewesen, zu verdursten, erinnert sich White. Er berichtet entspannt über sein Erlebnis, ohne es zu beschönigen. Es waren die ernstesten Momente seines Lebens, und der Galgenhumor hält sich über neun Jahre: "Anti-Sodbrennen-Tabletten sind keine gute Mahlzeit." Obwohl er nicht religiös ist, betete er in der Ausweglosigkeit zu Gott. Wenn er heute über diese spirituelle Anwandlung in der Not spricht, kommen seine Worte immer noch stockend, als habe er im Fahrstuhl etwas über sich selbst gelernt, das er nicht verleugnen will, auch wenn es lange her ist.

Nicholas White nimmt zwar inzwischen wieder den Aufzug, ist aber nie in seinen Job zurückgekehrt. Der Rechtsstreit gegen das Management des Gebäudes und die Aufzugfirma dauerte vier Jahre lang. White klagte auf 25 Millionen Dollar Schadenersatz und einigte sich auf eine niedrigere Summe, über die er nicht reden darf. Das Geld hat er ausgegeben, und momentan ist er arbeitslos. Durch die Entscheidung, zu klagen, statt zu Business Week zurückzukehren, habe er seine Gefangenschaft verlängert, sagt White.

Ein Happy End hat diese Geschichte nicht, obwohl es im Video so aussieht: Als sich die Tür nach 41 Stunden öffnet, wirkt es wie das Ende einer ganz normalen Liftfahrt. Zumindest gab es eine kleine Belohnung: White hatte bei seinen Rettern ein kühles Bier bestellt.

Die Kolumne "Das Leben der Anderen" erscheint jeden Donnerstag auf sueddeutsche.de. Bookmark: www.sueddeutsche.de/lebenderanderen

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