Internetvideo der Woche:Femme fatale mit Bohrmaschine

Das YouTube-Neujahrskonzert für alle Men's-Health-Cover-Typen, mit der traurigsten Coverversion aller Zeiten und einem Ukulele-Wunder.

Christian Kortmann

Die Aufmerksamkeit ist ungerecht verteilt. Wir beschäftigen uns zu viel mit Sarahs, Marcs & Heinos Sexualtaktung und zu wenig mit dem Elend der Welt und großer Kunst. Der 1. Januar, dieser Tag wie eine weiße Website mit weißen Links, bietet die Chance, es anders zu machen und weniger beachtete Künstler zum Neujahrskonzert auf die Flashplayer-Bühne zu bitten.

Wie Woody Phillips. Obwohl seine Alben "Toolbox Classics" und "Toolbox Christmas" seit mehr als zehn Jahren erhältlich sind, ist Phillips ein Noch-zu-Entdeckender geblieben. Jetzt gibt es wieder etwas mehr von ihm, nämlich ein Video, das, wenn Originalität und Können immer die Beachtung fänden, die sie verdienten, weit oben in den YouTube-Charts stehen müsste.

Seit seiner Kindheit spürt der Kalifornier Phillips die musikalischen Qualitäten auf, die in der Holzwerkstatt verborgen liegen. Sein Vater und sein Großvater waren Schreiner, auch Woody arbeitete in der Firma und studierte parallel dazu klassische Musik. Morgens Cellounterricht, nachmittags verlegte er mit seinem Vater Parkett - beides seien für ihn schöngeistige Tätigkeiten gewesen, erzählte er mir vor einigen Jahren.

Lauter heiße Feger

Woody Phillips spielte das in seiner Heimat Santa Cruz populäre Instrument Singende Säge, das man auch im Video sieht. Bald probierte er gezielt weitere Werkzeuge aus, suchte Baumärkte auf und bat das Personal, ihm Geräte vorzuführen, weil er ihren Klang hören wollte. Der Dremel, ein kleiner kräftiger Handbohrer, ist sein Lieblingsinstrument. Manche Hörer haben aber Angst davor, weil das Geräusch sie an den Zahnarzt erinnert.

Im Clip spielen Woody und seine Handwerker die Habanera aus Bizets Oper "Carmen". Die Fliege des Maestros ist derangiert, dafür sitzen die Schutzbrillen perfekt. So liebevoll bearbeiten sie die Geräte, dass die groben Werkzeuge in ihren Händen zu feinen Instrumenten werden. Angesichts dieses Trios könnte man auf den utopischen Gedanken kommen, dass all der Lärm, der in der Welt ist, eines Tages ähnlich harmonisch zusammenklingt.

Gründe, sich zu fragen, wie man es in einer kaputten Welt weiterhin aushalten soll, hat auch der Musiker Nick Cave immer wieder gefunden. Im Clip "What a Wonderful World" singt er vor dem nachtblau oszillierenden Glamourvorhang den einst für Louis Armstrong geschriebenen Song über grüne Bäume und rote Rosen, aber es ist klar, dass über Caves Welt ein Grauschleier hängt. Und es ist ebenso klar, dass es sich nicht um billigen Pessimismus, sondern hart erarbeiteten Realismus handelt.

Erst als er ins Duett einstimmt, wird Shane MacGowan ins Licht gerückt. Auch er ist mit seinem vampiresken Teint ein echter Men's-Health-Cover-Typ. Zwar hatte auch Cave immer wieder mit Drogen zu kämpfen, aber vor allem für den zahnkranken Alkoholiker MacGowan ist dieses Video ein Zeichen des Sich-Zusammenreißens.

Sich mit den Schönheiten der Welt vom Elend abzulenken, das haben beide oft nicht geschafft und sich stattdessen Substanzen in die Blutbahn gejagt. Aber die Stelle im Song, an der Freunde sich die Hände schütteln und unausgesprochen "Ich liebe dich" zueinander sagen, die ist ungeheuer wichtig für sie. So dekonstruieren Cave und MacGowan den Song und bestätigen ihn auf diesem Umweg wieder: Trost findet man in einer nicht mehr ganz so wunderbaren Welt vielleicht nur noch in der Kunst - aber man findet ihn.

Ebenfalls zum Weinen schön ist das letzte Stück unseres Neujahrskonzerts: Der Hawaiianer Jake Shimabukuro spielt auf der Ukulele eine Komposition seines Vorbilds George Harrison: "While My Guitar Gently Weeps". Dass im Hintergund das Plätschern eines Baches oder Springbrunnens zu hören ist, stört nicht, sondern unterstreicht den alltäglichen Rahmen dieses Songs, dessen schwebende Erhabenheit aus dem Gestus der Beiläufigkeit ("I look at the floor and I see it needs sweeping ...") geboren ist.

In den USA und im pazifischen Raum ist Jake Shimabukuro ein Star. In Deutschland gilt die Ukulele als Clownsinstrument, dass nur von Stefan Raab in größerer Öffentlichkeit gespielt wird. Doch Shimabukuros Verhältnis zum Instrument ähnelt dem von Woody Phillips zu Bohrer und Säge: Er fräst Harrisons Meisterwerk mit feinerer Schneide nach, in höheren, genauer konturierten Tönen. Präzise ziseliert steigt aus der kleinen Ukulele der ganz große Song auf. Nur muss Jake anschließend nicht fegen.

Die Kolumne "Das Leben der Anderen" erscheint jeden Donnerstag auf sueddeutsche.de. Bookmark: www.sueddeutsche.de/lebenderanderen

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