Süddeutsche Zeitung

Internetvideo der Woche:Die Würger-Initiative

Was passiert, wenn man zu spät merkt, dass man keinen Gummischlauch, sondern eine der längsten Schlangen der Welt filmt? Die Clip-Kritik, die garantiert gegen Schluckauf hilft.

Christian Kortmann

Manchmal nimmt die Welt da draußen Ausmaße an, die das Vorstellungsvermögen des Stubenhockers sprengen. Ein Athlet springt 8,95 weit? Unvorstellbar, erst recht, wenn man diese acht Meter und 95 Zentimeter in der Wohnung abschreitet: Aha, er springt also von der Wohnungstür durch den Flur an Bad und Küche vorbei, segelt durchs Wohnzimmer und fliegt durch die Balkontür auf der anderen Seite wieder hinaus, ohne die Wohnung auch nur zu berühren.

Nicht weniger unfassbar wäre es für die an Hunde und Kaninchen gewöhnten Bewohner westlicher Städte, wenn man sagte, der Athlet springe eine Pythonlänge weit. Denn die Schlange, die im Video "A very long snake" gezeigt wird, ragte ebenso aus alltäglichen Mietwohnungen heraus: Sie hinge mit dem Kopf über dem Balkongeländer, während ihr Schwanz sich im Treppenhaus ringelte.

Still und starr liegt die Schlange im Clip da, und man begreift anfangs nicht, dass es sich um ein Tier und keinen ölig glänzenden Hartgummischlauch handelt. Das Zwitschern der Vögel und die Ruhe, die über der Szene liegt, täuschen über die Gefahr hinweg.

Die Handkamera folgt dem Ding fasziniert, Meter für Meter schreitet der Filmer den mächtigen Korpus ab, der sich vom schlanken Schwanz zum massiven Balken weitet. Wenn diese marode Industriebaracke ein Zoo ist, dann ist er dringend renovierungsbedürftig; wenn die Schlange ausgerissen ist, dann sollte man sie schnell zurück in den Dschungel bringen.

Die Ich-Perspektive des Videos setzt das Tier zum einen ins Größenverhältnis zum Menschen, der daran vorbeilaufen kann, als sei es eine Pipeline aus Sibirien. Zum anderen demonstriert die Schlange am Ende des Clips, als sie den neugierigen Besucher mit einer Überraschung erwartet, wie schnell sie trotz ihres gut 100 Kilogramm schweren und behäbig wirkenden Körpers reagieren kann. Riesenschlangen sind höchst sensitive Wesen, und diese hat ihren Besucher die ganze Zeit über auf dem Radar gehabt.

So wird im Clip "A very long snake" in nur 17 Sekunden ein komplexes Erkenntnisfeuerwerk inszeniert: Es beginnt mit Irritation, dann folgen Erkennen und Staunen, abgeschlossen von einem Schockeffekt. Wer unter Schluckauf leidet - dieses Video sollte ihn kurieren: Es katapultiert den Paradiesapfel gewissermaßen wieder aus der Kehle.

Ein Faszinosum des Pythons ist seine Fähigkeit, die Kiefer auszuklinken und Nahrung als Ganzes zu verschlingen, so dass sich die Konturen der Beute in den Ausbeulungen des Körpers abzeichnen. Man würde das manchmal auch gerne können, um sich unkompliziert zu ernähren, zur Verdauung benötigt der Körper unsere Aufmerksamkeit ja nicht.

Mit dieser Schlangenmenschen-Fiktion spielt die "Eat Like Snake Triple Whopper"-Werbung: Als hätte er die Muskulatur einer Schlange, richtet der kriechende Mann seinen Oberkörper auf und vertilgt den Imbiss vom Tisch. In Python-Maßstäben ist ein Hamburger nur Fingerfood, Riesenschlangen verzehren nämlich gerne mal ein ganzes Schaf und bleiben dann unbeweglich liegen. Muss ein Gefühl sein, wie nach Currywurst/Pommes in einer betrunkenen Samstagnacht angezogen vorm Fernseher einzuschlafen.

"Tag und Nacht wird sie bei dir sein"

Auch von der Schlangen-Fähigkeit, sich ohne Füße schnell und sicher an Land wie im Wasser zu bewegen und auf Bäume klettern zu können, geht eine Faszination aus. Kein Wunder, dass der Mensch versucht, dieses Prinzip zu adaptieren und Schlangenroboter baut. Das zentrale Problem des Gleichgewichts beim aufrechten Gang menschen- oder hundeähnlicher Roboter stellt sich Schlangen nicht, deren Schwerpunkt so bodennah wie möglich liegt.

Die "Modular Snake Robots" des Biorobotics Laboratory der Carnegie Mellon University in Pittsburgh, Pennsylvania, bewegen sich seitlich, indem die ringförmigen Module ihrer Karosserie rotieren. Als Ganzes ist die Modulkette beliebig verformbar. So ist eine unheimlich überlegene Schnüffeldrohne entstanden: Die schwarze Schlangenkamera kann auf für den Menschen unmöglichen Wegen lautlos in jedes private Refugium schleichen und intime Bilder liefern. Heimlich kriecht sie eine Spalte in der Fassade des Hauses hinauf, da hebt sich der Deckel des Lüftungs- oder Elektroschachts, und schon blickt dir der Spion mit seinem Kameraauge ins Gesicht.

Noch hängt ihre Energieversorgung an einem Kabel, aber bald wird ihr Reptilienherz mit Lithium-Ionen schlagen. Und dann wäre man froh, wenn nur eine echte Schlange in der Wohnung läge.

Die Kolumne "Das Leben der Anderen" erscheint jeden Donnerstag auf sueddeutsche.de. Bookmark: www.sueddeutsche.de/lebenderanderen

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