Internetvideo der Woche:Die sprüht vor Influenz

"Haaa..., haa..., ha..., hatschi!" Die Nies-Saison ist eröffnet. Erst die Superzeitlupe zeigt, mit welcher Urgewalt wir Viren versprühen: Nies-Anfälle in der Clip-Kritik.

Christian Kortmann

Der Reiz dringt durch die Nase ein, wie eine mikroskopisch kleine Granate. Dann wandert sie hoch in die Stirn. Dort tickt nun der Zeitzünder, schon vibriert es leicht in der Nasenwurzel. Manchmal kann man die Explosion zurückhalten, durch Druck auf die Nase etwa, doch der Reiz bleibt bestehen. Er lässt einen nicht entkommen, auch wenn es einen halben Tag lang dauert, bis man schließlich niest.

Und wie befreiend solch ein Niesen wirkt! Als baue man mit dem Atemstoß auch geistigen Druck ab. Bei einem Niesanfall ist der Reiz sofort wieder da. Kaum ist ein Nieser überstanden, kommt schon der nächste, bis man sich schließlich die Nase putzen kann. Die Augen tränen, man ist ein wenig erschöpft, aber auch glücklich, weil es gut war und weil es vorbei ist. Deshalb sollte man einem Niesenden niemals "Gesundheit!" wünschen, sondern allenfalls gratulieren oder fragen: "Und, war's schön für dich?"

Beim Niesen fährt eine Urgewalt durch den Körper, auch die zierlichste Person mit Stupsnase verwandelt sich in eine trötende und fauchende Bestie, als wohnte als erdgeschichtliches Erbe noch irgendwo ein Mammut in uns. Manche Personen versuchen, weil sie das in Gesellschaft für schicklicher halten, das Niesen zu unterdrücken und kanalisieren es mit einem Kiekser in die Stirn. Das kann nicht gesund sein, denkt man stets bei dieser abgewürgten Detonation und würde sich nicht wundern, wenn sich auf dem Kopf des Nies-Negierers ein Blasloch öffnete wie bei einem Walfisch, um den Druck zu entladen.

Für die eigentlichen Profiteure, die Viren, ist das Niesen geballte Marketing-Power, das, was für Menschen eben eine perfekte virale Werbekampagne wäre. Der niesende Mensch ist der ideale Zerstäuber und Weiterträger des Virenmaterials. Gesundheits- und vor allem Grippeexperten raten deshalb dazu, "das Niesen wieder zu lernen", nämlich die Ladung in die Armbeuge "abzuniesen", damit das verseuchte Material zumindest nicht von Hand zu Hand weitergereicht wird. Doch die Superzeitlupenaufnahmen im Clip "Slow Motion Sneezing" zeigen, dass der Ausstoß angesichts der Wucht der körperlichen Regung uneindämmbar ist.

Zu einer weiblichen Opernarie öffnen und schließen sich die Augen der in wenigen Momenten Gebeutelt-Werdenden. Sie ahnen, dass gerade eine dicke Überraschung aus ihnen heraus- und auf sie zurast. Noch einmal lächeln sie, aber nicht, weil es etwas zu lachen gäbe, sondern weil sie in den nächsten Sekunden nicht mehr Herren ihrer Gesichtszüge sein werden. Es ist ein netter, gutgelaunter Abschied in den temporären Kontrollverlust.

Ähnlich wie bei einem Golfschwung gibt es beim Niesen eine Aushol- und eine Zuschlagphase. Zuerst wird Körperspannung aufgebaut: Die Niesenden lehnen sich zurück, verlagern das Körpergewicht auf die Fersen, schließen die Augen und öffnen die Münder wie zu einem Urschrei. Dann stoßen sie von oben herab, lassen dem Luftdruck freien Lauf. Die Lippen beben im feuchten Strudel wie bei einem Jazz-Trompeter. Angesichts solcher Eruptionen setzt dieses australische Aufklärungsvideo nicht auf die korrekte Niestechnik sondern auf Grippe-Impfungen. Denn Ansteckungen lassen sich nicht vermeiden, wenn die Menschen als durchschlagskräftige, großflächige Virensprenger durch die Gegend laufen.

Die Darstellung solch einer starken menschlichen Regung ist eine Herausforderung für Schauspieler. Im Clip "Sneezing Women!", einer Zusammenstellung von Niesern aus Kino- und Fernsehfilmen, gelingt es den Darstellerinnen überraschend gut. Mag sein, dass Niespulver im Einsatz war. Diverse Spielarten des Niesens werden vorgeführt: etwa das trockene, von einem "Excuse me!" begleitete Zur-Seite-weg-Niesen oder das verdrängende Kieksen à la Audrey Landers. Es gibt Meteoriteneinschläge aus heiterem Himmel, die Betroffene wie Beistehende erschrecken. Bemerkenswert auch das nasse Versumpfen im Papiertaschentuch und der kombinierte Nies-Heul-Krampf in Schwarzweiß.

Selbst größte Schauspielkunst kann nicht realistisch vermitteln, wie sich ein heftiges Niesen anfühlt. Es trübt alle Sinne, raubt dem Menschen zeitweilig Bewusstsein und Orientierung, so dass es bei Niesanfällen am Steuer schon zu schweren Verkehrsunfällen kam. Bei YouTube ist ein Fall dokumentiert, der die einige Momente dauernde Entkörperlichung des Niesrausches nachfühlbar macht. Es geschah eines Tages beim Staubwischen. Haaa..., haa..., ha...

Die Kolumne "Das Leben der Anderen" erscheint jeden Donnerstag auf sueddeutsche.de. Bookmark: www.sueddeutsche.de/lebenderanderen

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