Süddeutsche Zeitung

Internetvideo der Woche:Die Frau mit dem Hau

Gleich passiert's: Der Schlag trifft sein Ziel, und in Superzeitlupe sieht das anders aus als je zuvor. Die brutal deutliche Clip-Kritik.

Christian Kortmann

In der schönen neuen Arbeitswelt entstehen spektakuläre Internetvideos manchmal nebenbei. Eine Team-Building-Maßnahme in der Werbeagentur Action Figure in Austin, Texas, bestand in der Mail-an-alle-Ansage: "Heute hauen wir uns gegenseitig in die Fresse."

Und alle machten begeistert mit: Meredith blies ein Kaugummi auf, Ariel zündete sich eine Zigarette an und Vicki schüttete sich Wasser über den Kopf, was für einen atomar zerstäubenden Endeffekt sorgte. Doch die Ausgangsszenen des Videos wirken so lässig, dass man vielleicht einen Werbespruch für ein mobiles Elektrogerät erwartet, nicht aber das, was sich dann von links ins Bild schiebt.

Ganz langsam bewegt sich der rote Boxhandschuh auf den Kopf zu, dessen Träger noch weniger als der Zuschauer zu ahnen scheint. Bewegte sich die Faust wirklich so langsam, würde sie die Wange nur streicheln. Doch es handelt sich um eine Hochgeschwindigkeitsaufnahme, die die Wucht nicht mindert, sondern die Gewalt in Superzeitlupe als sich unaufhaltbare Energiewelle sichtbar macht, die durch das Fettgewebe des Kopfes rast und wie eine Orkanböe in die Haare fährt. Für Momente verwandeln sich die Gesichter in Portraits von Francis Bacon.

Die ursprünglich stummen Aufnahmen, die Action Figure ins Netz stellte, wurden von verschiedenen Usern mit Musik unterlegt. In der Agentur in Austin ist man nicht böse, als Erfinder dieser Bilder in Vergessenheit zu geraten, sondern stolz darauf, eine Welle der viralen Verbreitung angestoßen zu haben. Zum populärsten Clip wurde die Version "Action Figure Slow Motion Punches", die die Volltreffer mit einem Remix des Songs "Sweaty" der Techno-Band Muscles kombiniert.

User kaethor zerlegt die Szenen in ihre Einzelteile und zeigt zunächst nur die unschuldigen Gesichter, dann den Handschuh, der auf sie zurast wie ein Güterzug auf ein zwischen den Schranken eingeklemmtes Auto. Nach einer Minute erst erreichen die Schläge ihre Ziele.

Es ist denkbar, dass bereits die Action-Figure-Aufnahmen vom Treffmoment an digital manipuliert wurden, doch das Ergebnis ist in jedem Fall sehr realistisch. So brutal die Bilder auf den ersten Blick wirken, so vergleichsweise sanft sind die Schläge, die Körper geraten nicht ins Taumeln: Bei Boxkämpfen werden Schädel weitaus gewalttätiger zugerichtet und Gehirne erschüttert, unter anderem im öffentlich-rechtlichen Fernsehen. Doch das menschliche Auge ist zu langsam, um das Maß der Gewalt zu erfassen. Fraglich, ob man das genauer sehen will, und sich die Superzeitlupe im Kampfsport durchsetzen wird.

Auf der großen TV-Bühne wurde sie zur Fußball-EM in diesem Jahr eingeführt und verlieh Inhalten eine neue Bedeutung: Michael Ballacks Freistoßtor im Spiel gegen Österreich war auch deshalb nachhaltig imposant, weil er in der Superzeitlupe an einen Samurai erinnerte, der den Ball mit einem Kampfsprung ins Tor wuchtete.

So sieht man auch dank des Clips "NEVER SEEN BEFORE: Fingerboard Slomotion" ein auf den ersten Blick leicht zu belächelndes Hobby mit neuen Augen. Beim Fingerboarding handelt es sich um Skateboardfahren mit einem von Zeige- und Mittelfinger gelenkten Miniaturbrett. In Echtzeit erkennt man die schwierigen Tricks nicht, die mit den kleinen Brettern vollführt werden. Die Langsamkeit und Klarheit der Aufnahme ermöglicht Laien, die Faszination zu verstehen, und verdeutlicht die geistige Hingabe der Sportler, für die Telefonbücher und Frühstücksbrettchen zum Abenteuerspielplatz werden.

In der Superzeitlupe ist eine Musikalität der Zeit erkennbar, die der Mensch durch seine technischen Wahrnehmungsinstrumente zum Klingen bringt, indem er die Ereigniskette beliebig schrumpft und zerdehnt. Um die Symphonie der Bilder zu begleiten, verlangen Superzeitlupe-Videos nach musikalischer Untermalung, denn zerdehnte Originaltöne klängen verzerrt. Der Clip "Trap-Jaw Ants" beginnt mit tropischem Sirren, dann klappen Kiefer zusammen - mit dem Geräusch eines Peitschenschlags.

Es sind nicht irgendwelche Kiefer, sondern die der Ameisengattung Odontomachus. Ihre Kiefer schließen sich mit 233 km/h und halten den Geschwindigkeitsrekord für Körperbewegungen. Die dabei ausgeübte Kraft übertrifft das Körpergewicht der Schnappkieferameise um mehr als das Dreihundertfache, und kann in Gefahrensituationen zum Antrieb einer Art Schleudersitz benutzt werden: Die Ameise "schnippt" sich selbst weg vom Ort der Gefahr. In Saltos, die sie das Vielfache ihrer Körpergröße weit und hoch tragen, fliegt sie durch die Luft. Mit dem Clip "Trap-Jaw Ants" ist der Flohzirkus im 21. Jahrhundert angekommen.

Die Superzeitlupe zeigt nicht nur, wie Gewalt wirkt, sondern auch, wo für das menschliche Auge nicht wahrnehmbare Gewalten wirken. Im Ameisenvolk herrscht stetes Teambuilding, ob mit oder ohne Boxhandschuhe: Es ist immer ein großes Raufen im Haufen.

Dies ist die 100. Folge unserer Kolumne "Das Leben der Anderen". Deshalb laden wir Sie ein, am heutigen Donnerstag mit uns zu feiern: Kolumnist Christian Kortmann zeigt die besten Internet-Videos und diskutiert mit Matthias Günther von den Münchner Kammerspielen. Am 18. September 2008 um 19 Uhr im Süddeutschen Verlag in München, Eingang Färbergraben 14, U-/S-Bahn Marienplatz. Der Eintritt ist frei.

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