Internetvideo der Woche:Das Ende von Rot-Grün

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Was Straßenverkehr anrichtet und wie er ohne Ampeln aussähe: Der perfekte Verkehrsfluss und Autowracks, aufgespießt wie Grillhühnchen, in der Clip-Kritik.

Christian Kortmann

Wenn Sie das folgende Video abspielen, treten Sie einige Meter vom Bildschirm zurück: Was Sie dann sehen, erinnert an mikroskopische Vergrößerungen vom Kreislaufsystem eines Organismus, in dem alle Teilchen und Zellen zielgerichtet durcheinanderwuseln, weil sie wissen, an welcher Stelle sie gebraucht werden. Von außen sieht das Treiben vielleicht chaotisch aus, aber ihm wohnt eine kollektive, ameisenhaufenhafte Intelligenz inne, die alles an den richtigen Platz rückt.

Dieser Clip, "India Driving", zeigt das Idealbild eines Verkehrsflusses: Zweieinhalb Minuten lang meistern unterschiedlichste Verkehrsteilnehmer - Autos, Busse, Lkw, Fahrräder und Fußgänger - eine Kreuzung ohne Kontroll- oder Regelungsinstanz. Die Fahrzeuge folgen keiner Straßenverkehrsordnung, sondern einer situativen Logik, einem Gesetz, das sich in jedem Moment neu formuliert, da sich die Bedingungen ständig verändern.

Keiner betrachtet den Verkehr als Problem, die Spieler kennen ihre gegenseitigen Laufwege, würde man beim Fußball sagen. Wenn es sich an einer Stelle knubbelt, reagiert niemand panisch, sondern mit der nötigen Geduld, die das schnellstmögliche Fortkommen aller garantiert. Verlöre nur einer die Nerven, käme es sofort zu einer massiven Stauung, die sich unauflösbar verknüllte wie ein Paketschnurknäuel, an dem von allen Seiten gezogen wird.

Gebt uns die Freitagabend-Laune zurück!

Ab und zu überqueren Fußgänger die Fahrbahn, unerschrocken, weil sie wissen, dass die anderen Verkehrsteilnehmer aufpassen. Das ist weniger riskant als es aussieht: Fortschrittliche Verkehrsforscher plädieren für die weitgehende Abschaffung von Ampeln in der Stadt, weil dies Rücksichtnahme und Aufmerksamkeit erhöhe.

Man kann diesen Clip, der wahrscheinlich von einem Touristen aus dem Hotelzimmer gefilmt wurde, wieder und wieder anschauen und immer neu über die Ideen einzelner Fahrer und ihre Kühnheit staunen: dieser Linksverkehr mit der speziellen Komplikation des Geisterfahrens, das einige Fahrer gerne mal ausprobieren. Das konstante Hupen wirkt nicht aggressiv, sondern wie ein Konzert von akustischen Leitstrahlen. Darin fehlt eigentlich noch ein Muhen mitsamt anhängender Kuh als weiterer Statistin im Verkehrswimmelbild, deren tierisches Wesen der Kreuzungsorganismus ebenfalls mühelos integrierte.

Leider fließt Verkehr nicht immer reibungslos, in Deutschland besteht eine der Begleiterscheinungen von Mobilität in 5000 Verkehrstoten pro Jahr. Der Clip "Car Crashes" reiht Bilder von Unfallautos aneinander, eine Memento-Mori-Collage aus der Realität. Es sind Bilder bizarr verformten, einstmals stromlinienförmigen Blechs, designte Karosserien, durch Einwirkung gewaltiger Kräfte nun zu einem automobilen Totentanz karikiert: plattgedrückt, um einen Metallpfosten gewickelt, auf eine Leitplanke geschoben wie ein Grillhühnchen, frontal von einem Lkw zertrümmert oder in der Mitte verzogen wie eine weiche Uhr von Dalí. Auch die ausgebrannten Autowracks sehen skulptural aus, eine monochrom schwarz verfärbte Schreckenslandschaft, ein Trümmergebirge mit Helfern in Uniformen, die nicht mehr helfen können.

In Verbindung mit Leonard Cohens Song "Hallelujah", gesungen von Rufus Wainwright, wird der Schrecken dieser Bilder ästhetisiert: Man könnte dies als zynische Collage verstehen, doch andererseits kommt für die Insassen wohl jeder irdische Trost zu spät. Auch wenn auf diesen Bildern keine Körper zu sehen sind, so kann sich doch jeder vorstellen, was die in den Verwerfungen des Materials sichtbaren Kräfte mit einem Menschen machen: Eine zerstörte Windschutzscheibe schmerzt hier wie ein Stich ins Auge.

So erinnert der Clip an drastische Werbekampagnen, mit denen Raser gebremst werden sollen. Doch bei aller heilsamen Schockwirkung werden solche Bilder schnell wieder vergessen, nicht aus Ignoranz, sondern weil sie uns mit der gleichen Ratlosigkeit zurücklassen, die auch in den Gesichtern der Staffage zu sehen ist. Überpräsentes Bewusstsein der Gefahr lähmt unsere Mobilität: Um angstfrei den Alltag zu bewältigen, muss man Restrisiken ignorieren, egal welches Fortbewegungsmittel man nimmt. Selbst als Fußgänger kann einem jederzeit der Klischee-Blumentopf auf den Kopf fallen.

Der überlange Abspann von "Car Crashes" ist programmatisch: Der Bildschirm wird schwarz, eine beschwingte Rocknummer fordert dazu auf, das Wochenende zu feiern und bringt uns die gute Freitagabend-in-die-Disco-fahr-Laune und indische Kreuzungs-Lässigkeit zurück.

Danke für das "Car Crashes"-Fundstück an Klemens Brysch.

Die Kolumne "Das Leben der Anderen" erscheint jeden Donnerstag auf sueddeutsche.de. Bookmark: www.sueddeutsche.de/lebenderanderen

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