Netzkolumne:Abseits

Heuernte

Algorithmen helfen einem, im Heuhaufen namens Internet die Nadel zu finden. Doch vielleicht sollte man mehr finden und weniger suchen.

(Foto: Manfred Neubauer)

Schluss mit dem Google-Optimierungswahn: Neue Suchmaschinen helfen beim Finden von Dingen, die man nicht gesucht hat.

Von Michael Moorstedt

Der englische Begriff Serendipity ist mit seiner offiziellen Übersetzung nur behelfsmäßig beschrieben: ein glücklicher Zufall. Aber der Begriff beinhaltet auch die Empfindung einer unverhofften Erkenntnis, nach der explizit nicht gesucht wurde. Bei allen Fragen der Definition bleibt jedoch festzuhalten, dass das Internet wohl der schlechteste Ort ist, um dieses Gefühl hervorzubringen.

Man müsse deshalb seine Aufmerksamkeit wieder renaturieren, schrieb der Technologie-Journalist Clive Thompson kürzlich in einem Artikel. Das klingt jetzt schon wieder nach allgemeingültigem Lebenskonzept im digitalen Zeitalter, besagt aber nicht viel mehr, als dass man mal aufhören sollte, beständig auf die Vorschläge zu klicken, die einem die Algorithmen der Tech-Konzerne täglich so servieren. Das ist jedoch wesentlich schwieriger, als es sich zunächst anhört. Noch dazu wird so gut wie jede moderne Website nach SEO-Maßstäben durchoptimiert. Entscheidend für die Qualität eines Textes ist nach dieser Lesart nicht mehr der Inhalt, sondern nur noch, wie oft bestimmte Formulierungen im Text auftauchen. Wichtig ist nicht mehr, ob ein Artikel für einen Menschen lesbar ist, sondern ob die Suchmaschinen ihn bestmöglich verarbeiten können.

Die experimentelle Suchmaschine Marginalia soll ihren Nutzern dabei helfen, "etwas zu finden, von dem Sie nicht einmal wussten, dass Sie es suchen". Wann war eigentlich das letzte Mal, dass der Besucher zufällig auf etwas Interessantes gestoßen sei, fragt der anonyme Programmierer. Wie aber schafft man es, eine solch flüchtige Empfindung wie jene Serendipity zuverlässig herzustellen? Anstatt wie die großen Anbieter Google oder Bing, die Ergebnisse bevorzugen, die mit moderner Web-Technologie und vielen Bildern ausgestattet sind, präferiert Marginalia stattdessen alte oder zumindest alt aussehende Webseiten, die viel Text beinhalten.

Wenig Links, kaum Bilder - herrlich!

Sucht man hier etwa nach den Prominenten und Mächtigen dieser Welt, sehen die Ergebnisse dramatisch anders aus als bei einer der Mainstream-Suchmaschinen. Statt der ewig gleichen Wikipedia-Einträge tauchen auf einmal Artikel aus der Vorzeit des Internets auf. Riesige Textmassen, wenig Links, kaum Bilder. Wenn man eine Faktenrecherche anstrebt, ist Marginalia das falsche Werkzeug. Es ist ein Ort für das Abseitige und Seltsame, in dem man sich verlieren kann.

Es gibt auch noch ein paar andere Suchmaschinen, die ihren Nutzern den glücklichen Zufall erleichtern wollen. Wiby.me gewichtet in den Ergebnissen etwa persönliche Homepages höher, und auf millionshort.com lassen sich die populärsten Seiten wie Google oder Wikipedia gleich von vornherein von der Suche ausschließen.

In der modernen Welt, die gleichzeitig hyperfokussiert und hyperaktiv ist, wirkt ein solches Bestreben beinahe unerhört - oder zumindest mal wie ein Luxusproblem. Abseits von den üblichen Bedenken hinsichtlich Filterblasen und drohender Dialogunfähigkeit stellt die Art und Weise, wie die großen Konzerne ihre Sortier- und Suchalgorithmen gewichten, dennoch eine Herausforderung für unser Vorstellungsvermögen dar: Wie kann man überhaupt die Frage, was "interessant" ist, in eine für Maschinen verständliche Form gießen?

Die Antwort der Algorithmen ist noch immer von bemerkenswerter Dumpfheit: Interessant ist weiterhin das, was ohnehin schon zuvor interessant war. Das, was lukrativ und "beliebt" ist. Dieses System gipfelt in einem Mittelwert der durchschnittlichsten Geschmäcker der Menschheit. Es ist wie eine intellektuelle Monokultur. Was den Weg auf unsere Bildschirme findet, ist der kleinste gemeinsame Nenner dessen, was die Leute sich ansehen wollen, und das Ergebnis des Mittelwerts ist, wenig überraschend, mittelmäßig.

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