Internet-Abstinenz:Wenn Hipster fasten

Mehr als eine halbe Million Menschen in Deutschland sind schwerst internetabhängig. Ständig tippen sie auf ihren Handys, googeln oder checken Mails. Ein junger Mann aus Friedrichshain hat sich von Internet, iPhone und Co. befreit. Nun hat er seine Autonomie und Freiheit wieder zurückerlangt und einen klareren Kopf als je zuvor. Seine Zuhörer bewundern ihn, bis sie erfahren, wie lange er schon so abstinent lebt.

Evelyn Roll

Er war Anfang dreißig, schlank, gut aussehend, sorgfältig gestylt, sehr heute, ein Hipster aus Friedrichshain. Und er erzählte, dass er ganz ohne Internet lebt und ohne Smartphone. Ein kompletter Offliner sei er, so hat er sich tatsächlich ausgedrückt: Ich bin ein kompletter Offliner. Mein iPhone habe ich in die Schublade geworfen und die Sim-Karte in ein altes, sehr primitives Mobiltelefon geschoben, mit dem ich wirklich nur telefonieren und fotografieren kann. Sogar die SMS-Funktion habe ich gesperrt. Ich nenne das Online-Fasten, Netz-Abstinenz, müsst ihr auch mal probieren, ihr Webaholics: Keine Mails, keine Apps, kein Twitter, kein Facebook, keine GPS-Navigation. Geht doch auch ohne.

Wo war ich gerade? - Ohne Ablenkung am PC arbeiten

Im letzten Drogenbericht der Bundesregierung ist der Onlinesucht erstmalig ein eigenes Kapitel gewidmet worden.

(Foto: dpa-tmn)

Die Zuhörer staunten. Einer fragte: Und warum tust du das?

Der Offliner sagte: Too much Information, TMI. Ständig habe ich irgendetwas nachgeschaut oder eingetippt, gegoogelt, Mails gecheckt, Push-Nachrichten gelesen. Dabei habe ich meine Umgebung und die Schönheit der realen Welt nicht mehr wahrgenommen. Und wenn ich mich irgendwo verlaufen habe oder aus der U-Bahn ausgespuckt worden bin drüben im unbekannten Charlottenburg, war ich ohne mein iPhone schon kaum noch in der Lage, meinen Weg nach Hause zu finden. Ich bin diese Abhängigkeit als Netz-Junkie einfach leid gewesen.

Die Zuhörer nickten bewundernd. Und der Offliner erzählte von einem Zeitungsartikel, in dem die Vorsitzende der "Ärztegesellschaft Heilfasten und Ernährung" gesagt hatte, dass Ausschalten und Facebook-Fasten Stress abbaut und Leben verlängert.

Im letzten Drogenbericht der Bundesregierung sei der Onlinesucht erstmalig ein eigenes Kapitel gewidmet worden, weil "vor allem männliche Jugendliche und junge Erwachsene häufiger ein sich verlierendes, entgleitendes und in Extremfällen psychopathologisch auffälliges Online-Nutzungsverhalten" zeigen. In Deutschland gebe es inzwischen 560.000 Schwerst-Internet-Abhängige, mehr als Glücksspielsüchtige. Außerdem verändere und verderbe dieses ewige Online-Sein alles, auch die Gespräche.

Wenn früher jemand von einem Film erzählte und der Regisseur fiel ihm nicht gleich ein, sagte er Sätze wie: Das ist dieser Typ, der sonst brutale Sachen macht, aber auch schon vor diesem Hugo-Film weicheres Zeugs wie Shine a Light mit den Stones. Und wenn dann keiner der anderen den Namen wusste, ist das Gespräch einfach weiter gegangen. Jetzt ist immer einer dabei, der erst mal googelt und dann "Scorsese!" ruft, wenn sich längst ein neues Thema entwickelt hat.

Erfahrung seines Lebens

Er sei es auch sowas von leid, immer nur noch mit Sozialstatisten zu tun zu haben, mit Menschen, die nur scheinbar da sind: in Vorlesungen, im Büro, in Redaktionskonferenzen. Sitzen zum Anfassen real vor einem und sind doch nicht wirklich da, weil sie im Netz anderswo und mit anderen unterwegs sind. Von alledem habe er die Nase voll und mache nun sehr interessante Erfahrungen, nachdem er erst gedacht habe, er schaffe das gar nicht.

Dann wurde er ein wenig euphorisch, fast pathetisch: Ich jedenfalls habe meine Autonomie und Freiheit zurück, die Hoheit über meine Zeit und über mein Leben, dazu einen klareren Kopf als jemals zuvor. Ich kann wieder erkennen, was wirklich wichtig ist, jetzt gerade zum Beispiel kann ich riechen und schmecken und fühlen, dass Frühling ist in Berlin. Ich kann euch allen so eine Internet-Abstinenz nur empfehlen, es ist eine der wichtigsten Erfahrungen meines Lebens.

Die Zuhörer waren beeindruckt. Man konnte sehen, wie der eine und die andere sich vornahmen, es auch auszuprobieren. Dann machte einer in der Runde den Fehler, sehr bewundernd zu fragen: Wie lange machst Du das denn jetzt schon? Und die Antwort war: seit gestern.

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