Internationales Literaturfestival Berlin:Die Abschaffung der Arten

Lesezeit: 3 min

Die Sache mit dem Fuchs: der Historiker und Autor David Van Reybrouck. (Foto: Hartwig Klappert)

"Wir verhalten uns wie die Kolonisatoren der zukünftigen Generationen": Mit einer eindringlichen Rede hat David Van Reybrouck das Internationale Literaturfestival Berlin eröffnet

Von Lothar Müller

Ein Fuchs spielte die Schlüsselrolle in David Van Reybroucks Eröffnungsvortrag zum 22. Internationalen Literaturfestival Berlin. Der belgische Historiker und Journalist war dem abgemagerten Tier in der Provence begegnet und hatte es in der Dämmerung zunächst für eine Katze gehalten. Der hungrige Fuchs kam so nah an das Landhaus heran und fraß Reybrouck schließlich sogar aus der Hand.

"Der Sommer 2022 war der Sommer der Wahrheit", sagte der Historiker mit Blick auf die Waldbrände in Frankreich, den "Monster-Monsun" in Pakistan, ausgetrocknete Flüsse andernorts. Sein Vortrag "Die Kolonisierung der Zukunft" plädierte für eine Achsendrehung der eigenen Disziplin. Bekannt geworden ist Van Reybrouck in Deutschland mit "Kongo" (2012), seine neues, gerade auf Deutsch erschienenes Buch "Revolusi" erkundet die Schlüsselrolle Indonesiens für die postkolonialen Bewegungen nach 1945.

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Er will die nationalstaatliche Fokussierung beenden, in der sich Belgier mit dem Kongo, Engländer mit Indien, Deutsche mit Namibia und Togo befassen. "Kolonialgeschichte ist Globalgeschichte." Sein Ziel ist die Koppelung von Kolonialgeschichte und Ökologie. Darum der Fuchs. Der Vortrag begann mit einem Ausblick auf das Artensterben, der Fuchs war ein Bote der Klimakatastrophe.

Die Schuld an der Kolonisierung ist nicht vererbbar, die Privilegien sind es sehr wohl

Van Reybrouck will den Begriff Kolonialismus statt lediglich territorial und im Rückblick auf die Landnahmen der Vergangenheit künftig zugleich temporal verstanden wissen: "Wir verhalten uns wie die Kolonisatoren der zukünftigen Generationen, wir plündern ihr Trinkwasser und ihre fruchtbaren Böden". Diese Kolonisierung der Zukunft verlaufe entlang von territorialen Linien, die häufig kolonial geprägt seien.

In Van Reybroucks "Wir" steckt nicht die Menschheit als Gattung, sondern die erneute Kolonisierung des "globalen Südens" durch die reichen Länder des "Nordens", dem er Nordamerika, Europa, Japan Russland und Australien zurechnet. "Die Schuld an der Kolonisierung ist nicht vererbbar, die daraus resultierenden Privilegien sind es sehr wohl."

Als Anwalt eines strengen Verursacherprinzips erinnerte Reybrouck an die Selbstverpflichtung der Industrieländer auf der Pariser Klimakonferenz 2015, jährlich 100 Milliarden US-Dollar für die Anpassung an den Klimawandel in ärmeren Ländern zur Verfügung zu stellen. Die postkoloniale Attacke auf Symbolfiguren der kolonialen Vergangenheit dürfe nicht von der dringenderen "Dekolonisierung der Folgen der Klimakatastrophe" ablenken.

Pandemie, Klimawandel, Ukrainekrieg - die Krisen überlagern sich, die Literatur reagiert

Van Reybrouck beendete seinen Vortrag mit einigen Schweigesekunden für die Arten, die während seiner Redezeit ausgestorben waren. Zuvor hatte der Berliner Kultursenator Klaus Lederer in seinem Grußwort die Überlagerung der Krisen von der Pandemie bis zum Ukrainekrieg beklagt und dennoch zur Feier des Buches aufgerufen. Ulrich Schreiber, der Festivaldirektor, fügte das Attentat auf Salman Rushdie hinzu, kündigte Lesungen aus den "Satanischen Versen" an.

Hauptveranstaltungsort ist in diesem Jahr wieder das frisch renovierte Haus der Berliner Festspiele, dazu die Kuppelhalle im "Silent Green"-Kulturquartier im Wedding, einem ehemaligen Krematorium, Theater, Kinos, Buchhandlungen, Justizvollzugsanstalten, Schulen. Bereits am Mittwochmorgen hatte Angeline Boulley aus den Vereinigten Staaten das Kinder- und Jugendliteraturfestival eröffnet.

Die Tochter einer weißen Mutter und eines indigenen Vaters, der in ihrem Stamm, den Chippewa, der "Firekeepers" war, hat mit "Firekeepers Daughter" einen Erfolgsroman geschrieben. Ihre Ansprache war ein Plädoyer für die Selbstbestimmung der indigenen Bevölkerung in den USA und ihrer Verfügung über die eigene Kultur und zugleich ein Kommentar zur rituellen Dimension des Feuermachens wie zu seiner Nähe zum Erzählen.

Dem Totalboykott russischer Kultur erteilte der Festivaldirektor eine Absage

Als "das politischste" aller großen Literaturfestivals bezeichnete der Direktor Ulrich Schreiber das internationale Literaturfestival Berlin. In der Tat verdankt es sein Wachstum nicht nur den Auftritten von gut 160 Autoren und Autorinnen - darunter internationale Prominenz wie Margaret Atwood, Zadie Smith sowie die Nobelpreisträger Abdulrazak Gurnah und Herta Müller -, sondern auch der raschen Integration aller globalen Krisenherde. Ausdrücklich erteilte Schreiber dem Totalboykott russischer Kultur eine Absage.

Die Kreml-Kritiker Sergej Lebedew und Viktor Jerofejew werden lesen, der ukrainische Regisseur Sergei Loznitsa wird seine Dokumentarfilme zeigen, in der talkshownahen Sparte "Reflections" werden Daniel Cohn-Bendit und Deniz Yücel über den Krieg in der Ukraine diskutieren. Ob die thematischen Stränge - Pandemie, Ukraine, Klimadebatte, Postkolonialismus - Parallelen bleiben oder sich durchdringen, wird sich zeigen.

Bei der Eröffnungsveranstaltung wurde Van Reybroucks Verabschiedung der nationalen Perspektiven musikalisch gerahmt von der ukrainischen Sängerin und Bandura-Spielerin Hanna Rabenko, die ihren Auftritt offenkundig als Geste nationaler Selbstbehauptung verstanden wissen wollte. Und am späteren Abend trugen im Rahmen der weltweiten Lesung ukrainischer Literatur Ulrich Matthes und Hildegard Schmahl auf der Nebenbühne Auszüge aus Essays und Tagebüchern ukrainischer Autoren und Autorinnen so nachdrücklich vor, dass der Angriff eines niedergegangenen Imperiums, in dem die Rückentwicklung zum Nationalstaat missglückt ist, auf einen unmittelbaren Nachbarn in drastischen Bilder naherückte. Man könnt auch sagen: die Nebenbühne fiel der Hauptbühne ins Wort.

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