67. Internationales Filmfestival von Locarno:Visionen aus schmerzlichen Erfahrungen

Locarno Film Festival

Auf dem Flagschiff des Filmfestivals von Locarno, den nächtlichen Vorstellungen auf der Piazza Grande: Der philippinische Regisseur Lav Diaz präsentiert den "Goldenen Leoparden", den Hauptpreis des Festivals.

(Foto: dpa)

Das Festival in Locarno zeigt die Filme, die man sonst nirgends sieht. Sie erzählen von einem Umzug in Malaysia, einem Lissaboner Vorort und der Liebe auf dem weiten Meer. Gewonnen hat das Festival ein Film, der das Politische mit dem Phantomhaften mischt.

Von Fritz Göttler

House moving ist eine alte Tradition in den Dörfern von Malaysia. Man räumt, wenn man sich verändern will, nicht seine Sachen zusammen, sondern packt sein altes Holzhaus auf Balken und lässt es durch den Dschungel schleppen an seinen neuen Standort. Ein Fest für die ganze Familie, für Nachbarn und Freunde.

Genauso ist es auch mit dem schönen alten Haus, bewohnerlos gefunden im Wald, das der alte Pak Awang seiner Tochter als Hochzeitsgeschenk bieten will, in dem Film "Lelaki Harapan Dunia / Men Who Save the World" von Liew Seng Tat. Doch mittendrin rutscht die spaßige Zeremonie plötzlich ins Chaotische.

Ein Schwarzer sucht, auf der Flucht vor der Polizei, Unterschlupf im leeren Haus und wird für einen bösen Geist gehalten, mit allerlei Mitteln wird versucht, ihn auszutreiben - eins davon ist beherztes Crossdressing der Männer. Aber die lächerliche Wirrnis lässt sich nicht entzerren, die Stimmung ist vergiftet, die Ordnung nicht wieder herstellbar.

Locarno hat von allen großen Filmfesten der Welt das beweglichste, das offenste, das lässigste, und der neue künstlerische Direktor Carlo Chatrian hat diese Tendenz noch einmal intensiviert.

Alles ist in Bewegung rund um das Flaggschiff, die nächtlichen Vorstellungen auf der Piazza Grande. Liew Seng Tat aus Malaysia hat ganz selbstverständlich im Wettbewerb hier einen Platz gefunden, zusammen mit vielen anderen Erstlingsregisseuren und mit einer Reihe von Filmemachern, die seit Jahren die Richtung des Kinos bestimmen, auf den großen Filmfestivals aber oft nur am Rande unterkommen.

Das Politische gemischt mit dem Phantomhaften

Zwei von ihnen, Lav Diaz von den Philippinen und Pedro Costa aus Portugal, sind, quasi selbstverständlich, dieses Jahr mit wichtigen Preisen ausgezeichnet worden - "Mula sa kung ano ang noon / From What Is Before" erhielt den Goldenen Leoparden, "Cavalo Dinheiro" den Regiepreis.

Zwei umstürzlerische Geschichten, die das Politische mit dem Phantomhaften mischen. Zwei Filmemacher, die filmen, wie das Leben fließt, nichts ist forciert in ihrem Rhythmus, alles hat seine Zeit. Lav Diaz geht diesmal ins Jahr 1972, aufs Land, wo der Terror des Marcos-Regimes allmählich schmerzlich spürbar wird.

In Locarno geht es nicht um Topnamen und Repräsentativität

Pedro Costa geht nach Fontainhas zurück, die alte Vorstadt von Lissabon, die er seit Jahren filmisch erforscht, und holt den alten Ventura zurück vor seine Kamera, den man bereits aus "Colossal Youth" kennt, einen Propheten, der aus seinen eigenen schmerzlichen Erfahrungen seine Visionen schafft.

Ein dritter regular war, außerhalb des Wettbewerbs, Jean-Marie Straub - inzwischen vergeht kein Jahr ohne einen neuen Film von ihm in Locarno. Diesmal gab es "À propos de Venise", eine wilde, bestürzend schöne Gedankenflut über den Glanz und die Anfälligkeit der großen Stadt und des Systems, das sie verkörpert, des bürgerlichen Kapitalismus, sowie in einer Arbeitskopie den neuen Film "Kommunisten", der vom Widerstand handelt und vom Terror des Nazi-Regimes in Deutschland, Szenen aus dem Roman "Le temps du mépris", den André Malraux 1935 veröffentlichte, dazu Szenen rekapituliert aus früheren Straubfilmen, über kommunistisches Denken und Handeln, bis hin zu Hölderlins Empedokles.

Es geht in Locarno nicht um die Topnamen und Repräsentativität - nicht aus Verlegenheit, weil es immer schwieriger wird, zwischen den Großfestivals Cannes und Venedig Topfilme zu kriegen, sondern als Programm.

Es geht nicht um den einzelnen Film, seine Bedeutung für seinen Regisseur, sein Herstellungsland. Es geht um Kino als Werkstatt, als Erfahrungslabor. Es geht also wirklich um Kinogeschichte, die sich in Locarno und Wien stärker entwickelt als in Cannes.

Merkwürdige Anfeindungen gegen Polanski

Die Filme sind in Locarno immer unheimlich nah an der Wirklichkeit, neugierig, kühn, ohne Vorsichtmaßnahme - seltsam, dass erst in diesem Jahr, mit 86, Agnès Varda, die eben solch ein Kino verkörpert wie wenige andere, einen Ehrenleoparden bekommen hat - den sie bei der Verleihung auf der Piazza prompt mit einem kritischen Blick bedachte; sie hasst alles, was mit Ehrungen zu tun hat.

Keineswegs seltsam, dass Roman Polanski hierher passte, der einen Workshop abhalten sollte - ganz verletzlich konnte einem sein "Rosemary's Baby" plötzlich in Locarno erscheinen. Nach merkwürdigen Anfeindungen tessinischer Politiker sagte Polanski dann seine Teilnahme allerdings ab.

Fünf Millionen Dollar für einen Film? Bloß nicht. 500 000 Dollar sind genug

67. Internationales Filmfestival von Locarno: Käptn, mein Käptn - Melvil Poupaud und Ariane Labed in dem Film "Fidelio, l'odyssée d'Alice".

Käptn, mein Käptn - Melvil Poupaud und Ariane Labed in dem Film "Fidelio, l'odyssée d'Alice".

(Foto: Festival)

Man sieht hier Filme, die sich nicht hinter Perfektion verstecken, die sich nicht scheuen, das Unfertige zu feiern, die Unproduktivität. Und manchmal kommen diese Filme sogar aus dem reichen Filmland Amerika. Locarno hat mich aus einem Filmemacher aus Michigan zu einem internationalen Filmemacher gemacht, sagt Joel Potrykus in einem Gespräch mit seinem Freund und Kollegen Alex Ross Perry, abgedruckt in der kanadischen Filmzeitschrift Cinema Scope.

Beide haben bereits in früheren Jahren Filme in Locarno gezeigt, nun war Perry mit "Listen Up Philip", mit Jason Schwartzman, im Wettbewerb und erhielt den Sonderpreis der Jury, Potrykus zeigte seinen "Buzzard" in der Reihe "Cineasti del presente", die sich kaum merklich vom Wettbewerb unterscheidet - auch das ist kennzeichnend für Locarno, wie der Wettbewerbsgedanke fröhlich ad absurdum geführt wird.

"Wenn Leute mich fragen, ob ich auch mal einen Film mit fünf Millionen Dollar machen würde", erklärt Potrykus, "käme ich echt in Verlegenheit - ich müsste weiter meine Art Filme für 500 000 machen und die restlichen viereinhalb Millionen einstecken."

Shoplifting nennt er seine Art, in der Realität zu filmen, mit minimaler Crew und so schnell, dass die anderen kaum mitkriegen können, was sich da - vor der Kamera - abspielt. Filmen mit diebischem Vergnügen, eine gesunde Art von Verstohlenheit.

Der "Buzzard"-Held, gespielt von Joshua Burge, macht nichts anderes als die Lücken des gesellschaftlichen Systems aufzuspüren und naiv auszunutzen. Das ist, im Rahmen der Supercoups der Finanzkrise, angenehm provinziell. Ich werde solange in Michigan bleiben, wie es geht, sagt Potrykas.

Das Gesicht des Festivals war dieses Jahr Ariane Labed, man kennt sie aus dem griechischen Film "Attenberg" von Athina Rachel Tsangari - und aus deren Kurzfilm "The capsule", der vor zwei Jahren in Locarno lief.

In "Fidelio, l'ódyssee d'Alice" von Lucie Borleteau - wieder ein Erstling - spielt sie eine Schiffsmechanikerin, die auf einem Frachter anheuert. Ihr Kapitän ist Melvil Poupaud, sie hatte einst eine Liebesbeziehung zu ihm. Sie sind ein prächtiges Paar, ganz dem großen Vorbild verpflichtet: Kate und Leo auf der Titanic. An Land wartet auf Alice derweil ihr augenblicklicher Geliebter.

Der Geist der Mobilität, der Anarchie

Es ist ein Film wie aus den "Fragmenten einer Sprache der Liebe", und Berleteau hat ihm Sätze von Roland Barthes zugeordnet: "Historisch wird der Diskurs der Abwesenheit von der Frau geführt (die wartet); der Mann ist der Jäger (navigiert und verführt)."

Die Unabhängigkeit der Liebe, sagt der Film, ist nur möglich, indem man ihr ihre Unbeständigkeit lässt, die Verführungskraft und die Untreue. Die Enge der Kabinen, die Weite des Meeres, dazwischen entfacht sich der Geist der Mobilität, der Anarchie.

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