Internationales Filmfestival San Sebastián:Von wegen "Befriedet"

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Triumph für Paxton Winters: Mit "Pacificado" gewinnt der US-Amerikaner die "Goldene Muschel" des Internationalen Filmfestivals San Sebastián 2019.

(Foto: Festival)

Beim Filmfestival in San Sebastián provoziert die Vergabe des Hauptpreises an das brasilianische Drama "Pacifado" ("Befriedet") den Widerspruch der spanischen Presse. Dabei schwang wohl Frust darüber mit, dass dem ebenbürtigen Wettbewerbsbeitrag aus dem Baskenland die "Goldene Muschel" versagt blieb.

Von Paul Katzenberger

Es sah wie ein sicherer Heimsieg aus, doch als beim Internationalen Filmfestival in San Sebastián in diesem Jahr die Preise vergeben wurden, blieb der ganz große Triumph für das Gastgeberland Spanien und dessen autonome Gemeinschaft Baskenland aus. Denn nicht der von vielen Beobachtern favorisierte baskische Film "La Trinchera Infinita" ("Der endlose Graben") gewann die "Concha de oro" ("Goldene Muschel") als bester Film des Wettbewerbs, sondern der brasilianische Außenseiter-Beitrag "Pacifado" ("Befriedet").

Die spanische Presse schäumte über diese Entscheidung der Jury unter der Ägide des irischen Regisseurs Neil Jordan: "'Pacified' ist nicht viel mehr als ein handwerklich passabel in Bild und Ton gesetzter Film, der aber sofort wieder vergessen sein wird", schrieb Spaniens größte Tageszeitung El Pais. Ebenso scharf urteilte El Mundo: "'Pacified', eine enttäuschende "Goldene Muschel", titelte die zweitgrößte Tageszeitung des Landes und schrieb weiter: "Das erratische Drehbuch beschränkt sich im Grunde darauf, ein Unglück nach dem anderen anzuhäufen: Polizeigewalt, Armut, Schicksalsschläge, Schwangerschaft von Minderjährigen und sogar Inzest."

Die strenge Beurteilung mochte der Enttäuschung geschuldet sein, dass die "Goldene Muschel" in diesem Jahr nicht im Lande blieb, obwohl die Favoritenrolle die "La Trinchera Infinata" von der heimischen Presse zugesprochen wurde, nicht aus der Luft gegriffen war. Das belegten allein die vielen weiteren Preise, mit denen der Film in San Sebastián gewürdigt wurde. So ging die "Silberne Muschel" für die beste Regie und der "Preis der Jury" für das beste Drehbuch ebenso an das Historiendrama wie der Fipresci-Preis der internationalen Kritiker. Aber so schwach, wie die spanischen Kritiker "Pacified" kleinredeten, war das Drama unter der Regie des US-Amerikaners Paxton Winters beileibe nicht.

"Pacified" spielt in dem Armenviertel "Morro dos Prazeres" in Rio de Janeiro. Ein "Hügel der Freuden", wie der Slum auch genannt wird, ist er allerdings keineswegs: Zuletzt verging kaum ein Jahr, in dem sich nicht zwei oder drei Touristen, die eigentlich Rios monumentale Christusstatue "Cristo Redentor" besichtigen wollen, in die Favela verliefen und das mit ihrem Leben bezahlten, weil sie das Opfer von schießwütigen Drogendealern wurden. Diese Welt der Gewalt sollte aus Sicht der brasilianischen Behörden im Vorfeld der Olympischen Sommerspiele 2016 durch ein Durchgreifen der Polizei "befriedet" werden, worauf sich der Titel des Films bezieht.

Mit seinem Schauplatz gehört "Pacified" zu den Favela-Filmen, die mit vielfach ausgezeichneten Werken wie "City of God" von Fernando Meirelles aus dem Jahr 2002 und "Tropa de Elite" von José Padilha von 2007 geradezu ein eigenes Genre bilden. Das von US-Starregisseur Darren Aronofsky mitproduzierte Drama erzählt die Geschichte der 13-jährigen Tati (Cassia Nascimento), eines klugen und gutherzigen Teenagers dunkler Hautfarbe, und von Jaca (Bukassa Kabengele), dem vermeintlichen Vater Tatis und früheren Favelaboss, der nach 14 Jahren aus dem Gefängnis an seine alte Wirkungsstätte zurückkehrt. Mit Drogengeschäften will er allerdings nichts mehr zu tun haben, sondern sein Geld von nun an ehrlich verdienen.

Eine Atmosphäre der ständig lauernden physischen Bedrohung

Paxton weiß aus eigener Anschauung, wie schwierig der Ausstieg aus der Kriminalität für Jaca in diesem Umfeld sein muss. Denn der Regisseur hat selber jahrelang in der Favela gewohnt und kennt die ganz eigene Hackordnung dieser Welt, in die er den Zuschauer in "Pacified" mit dem Wissen des Insiders einführt. Gemessen an anderen Filmen des Genres stellt "Pacified" Gewalt in vergleichsweise wenigen Szenen explizit dar, und doch schafft es der Film, eine Atmosphäre der ständig lauernden physischen Bedrohung zu erzeugen. Subtil offenbart Paxton die vielfältigen psychischen Auswirkungen, die das Diktat einer gewaltsamen Gang Culture auf Menschen hat, die zudem täglich Drogen konsumieren - Abhängigkeit, Depression und ständige Angst. Dass die Jury diese gekonnte Milieustudie mit der "Goldenen Muschel" auszeichnete, war nicht so absurd, wie es die spanische Presse darstellte, auch wenn die zusätzliche Vergabe der "Silbernen Muschel" an Bukassa Kabengele für den besten männlichen Darsteller und der Preis der Jury an Laura Merians für die beste Kamera um eine Ehrung zu hoch ausfiel.

Dass immerhin zwei Hauptpreise des Festivals an "La Trinchera Infinita" gingen, war zumindest ein gewisser Ausgleich für all jene, die dem Film die "Goldene Muschel" gegönnt hätten. Das Drama des baskischen Regie-Trios Aitor Arregi, Jon Garaño und Jose Mari Goenaga führt zurück ins Jahr 1936, als General Francisco Franco die demokratisch gewählte republikanische Regierung Spaniens wegputschte und nach dreijährigem Bürgerkrieg seine franquistische Diktatur errichtete.

Die ganze physische Action, die dieser Umsturz nach sich zog, steckt in den ersten 20 Minuten des Films, als Francos Soldateska den Sozialisten Higinio (Antonio de la Torre) durch Andalusien hetzt, um ihn zu liquidieren. Während zwei seiner Kameraden exekutiert werden, rettet sich Higinio in letzter Sekunde in ein Erdloch, in dem er sich wie ein Maulwurf versteckt.

Der Schutz lebenslanger Liebe

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Lebenslanges Versteckspiel: Szene aus "La Trinchera Infinita".

(Foto: Festival)

Das Maulwurf-Dasein wird zu seinem Los für die nächsten 33 Jahre, den erst 1969 gewährte das Regime seinen Feinden aus dem Bürgerkrieg eine Amnesty. Dieses Martyrium stellt der Film in einem psychologischen Kammerspiel dar, das im Wesentlichen auf zwei Akteure reduziert ist: Higinio, der sich vor den Häschern der Machthaber unter die Bodenbalken seines Hauses verkriecht, und seiner Frau Rosa (Belen Cuesta), die ihn in seinem Schlupfloch am Leben erhält.

"Der endlose Graben" erzählt eine fiktive Geschichte, doch "Los Topos" ("Die Maulwürfe"), wie die politisch Verfolgten genannt werden, die sich in Spanien jahrzehntelang versteckten, gab es im Franquismus wirklich. "La Trinchera Infinita" beschreibt Higinios und Rosas Schicksal als schwere Prüfung, die die politische Repression dieser Jahre dem Paar auferlegt. Das packende Drama enthüllt ihre Ängste und Verletzbarkeit, ihre Verzweiflung, aber auch ihren Widerstandsgeist. Im Kern ist "Der endlose Graben" aber ein Film über die Liebe, die zu einem Schutz werden kann, der ein ganzes Leben lang währt. Diese essenzielle Aussage mit zwei Hauptpreisen zu würdigen, war mehr als angezeigt.

Um Verwandtschaftsbindungen, die durch äußere Einwirkung sehr kompliziert werden, ging es in San Sebastián in diesem Jahr auch im deutschen Wettbewerbsbeitrag "Das Vorspiel" unter der Regie von Ina Weisse. Das Drama handelt von der Geigenlehrerin Anna (Nina Hoss), die mit einer Midlife-Crisis kämpft: Sie fühlt sich in ihrer Beziehung mit Philippe (Simon Abkarian) mitunter einsam und als Konzertmusikerin ist sie gescheitert. Als bei der Aufnahmeprüfung ihres Musikgymnasiums der jugendliche Alexander (Ilja Monti) vorspielt, hält sie diesen für begabter als ihre Kollegen und setzt gegen diese durch, dass Alexander bei ihr Unterricht bekommt.

Fortan setzt Anna alles daran, ihren Zögling durch die Zwischenprüfung im kommenden Semester zu bringen. Wenn sonst schon in ihrem Leben die Erfolgserlebnisse ausbleiben, so will sie wenigstens ihren Kollegen beweisen, dass sie bei Alexander ein gutes Gespür gehabt hat. Sie treibt ihren Schüler zunehmend mehr an, als diesem gut tut, und entfremdet sich zudem von ihrem Sohn Jonas (Serafin Mishiev), weil Alexanders anstehendes "Vorspiel" zu ihrem zentralen Lebensinhalt wird und für Jonas kaum noch Zeit bleibt.

Die spannend konstruierte Charakterstudie einer konfusen Frau, die mit ihrem fehlgeleiteten Ehrgeiz überall Unglück stiftet, wird durch das nuancierte Spiel der Hauptdarstellerin getragen, für das Nina Hoss in San Sebastián mit der "Silbernen Muschel" für die beste Schauspielerin des Wettbewerbs ausgezeichnet wurde.

Familiäre Problembeziehungen als wiederkehrendes Thema

Allerdings musste sich Hoss ihre "Silberne Muschel" mit der jungen spanischen Schauspielerin Greta Fernández teilen, deren darstellerische Leistung in dem Wettbewerbsbeitrag "La Hija de un Ladrón" ("Die Tochter eines Diebs") von der Jury berechtigter Weise als gleichwertig eingestuft wurde. In dem Sozialdrama ging es genauso wie in "Pacified" um die schwierige Beziehung einer Tochter zu ihrem Vater, der gerade aus dem Gefängnis entlassen wurde. Damit bediente sich auch diese Geschichte des sattsamen Fundus' familiärer Problembeziehungen.

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Zwei Preisträgerinnen - zwei Generationen: Nina Hoss (44, rechts) und Greta Fernández (24) freuen sich gemeinsam über ihre jeweilige "Silberne Muschel" als beste Darstellerin des Internationalen Filmfestivals San Sebastián 2019.

(Foto: F)

Es dient dem Familienfrieden in der Regel, wenn kein Angehöriger bevorzugt oder benachteiligt wird. Wären in diesem Jahr ausnahmsweise zwei Filme mit der "Goldenen Muschel" auch auf die gleiche Stufe gestellt worden, wäre der Nachhall auf die Jury-Entscheidung sicher "befriedeter" ausgefallen.

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