64. Internationales Filmfestival San Sebastián:Memento der Gewalt

64. Internationales Filmfestival San Sebastián: Sinnlose Gewalt: In dem französischen Wettbewerbsbeitrag "Nocturama" richtet sie sich sogar gegen die vergoldete Statue der französischen Nationalheiligen Jeanne d'Arc am Pariser Place de Pyramides.

Sinnlose Gewalt: In dem französischen Wettbewerbsbeitrag "Nocturama" richtet sie sich sogar gegen die vergoldete Statue der französischen Nationalheiligen Jeanne d'Arc am Pariser Place de Pyramides.

(Foto: Festival)

Als Kulturhauptstadt Europas zieht San Sebastián Lehren aus der gewaltvollen Geschichte der Stadt. Das renommierte Filmfestival des Seebads schließt sich in einer Weise an, die den Deutschen bekannt vorkommen muss.

Von Paul Katzenberger

Es war so, als wollte das Filmfestival in San Sebastián in diesem Jahr mit Fakten belegen, was es in seinem Programm als Fiktion präsentierte. Einen Tag vor dem Start des Festivals fegte ein Sturm mit mehr als 100 Kilometern pro Stunde über den Golf von Biskaya. Seine Wucht legte die meterhohen Plakattafeln mit den Postern der Wettbewerbsfilme flach, sodass sie durch einen kurzfristigen Sondereinsatz städtischer Arbeiter wieder aufgerichtet werden mussten.

Dass es in der Bucht "La Concha" stürmisch werden kann, adressierte auch einer der 12 Kurzfilme des Festivalbeitrags "Kalebegiak" ("Gesichter der Straße").

Der Episodenfilm war eigens für die Europäische Kulturhauptstadt 2016 realisiert worden, zu der San Sebastián in diesem Jahr neben dem polnischen Breslau ausgerufen worden war.

15 baskische Filmemacher - darunter so prominente Namen des spanischen Kinos wie Imanol Uribe, Julio Medem, Gracia Querejeta and Daniel Calparsoro - realisierten die zwölf Abhandlungen, die alle in San Sebastián spielen, und die eindrucksvoll belegen, was für ein besonderer Ort das Seebad mit seiner Geschichte als kosmopolitisches Zentrum Europas des frühen 20. Jahrhunderts, seinen einzigartigen Folklorefestivals, mit seiner Spitzenküche und vielem mehr ist.

Zu diesen Eigenheiten zählt ohne Zweifel, dass die Natur, die es mit ihrer Schönheit und ihren ertragreichen Gewässern und Böden sehr gut mit diesem Ort gemeint hat, den Bewohnern auch die ständige Ehrfurcht vor ihr abverlangt.

Der Wunsch, der entfesselten Natur nahezukommen

Vor allem der Atlantik ist nicht nur Segen, sondern er kann auch Fluch bedeuten: In der "Kalebegiak"-Episode "Saltpetre" erzählt Regisseur Ekain Irigoyen die Geschichte des alten Fischers Nikaxio, der bewusst während eines Orkans aufs Meer hinausfährt und sich damit über das Ausfahrverbot der Behörden hinwegsetzt.

"Schon als kleiner Junge war ich von den Fotos der Monsterwellen fasziniert, die gegen den Paseo Nuevo brandeten (die am nächsten zum offenen Meer gelegene Straße San Sebastiáns, Anm. d. Red.)", sagt er. Also habe er versucht, eine Geschichte zu schreiben, die sich an den Empfindungen orientiere, die diese Bilder in ihm ausgelöst hätten. Tief im Gemüt muss sich da der Wunsch eingegraben haben, den entfesselten Naturgewalten einmal richtig nahezukommen.

Der baskische Schauspieler Paco Sagarzazu in der Rolle des Fischers Nikaxio im Kurzfilm "Salpetre".

Er will die Gewalt der Natur unmittelbar spüren: Der in ganz Spanien bekannte baskische Schauspieler Paco Sagarzazu in der Rolle des Fischers Nikaxio im Kurzfilm "Salpetre".

(Foto: Moriarti Prod.)

Zur Erbmasse San Sebastiáns gehört auch die lange Geschichte der Gewalt, die der 40-jährige Kampf der militanten Untergrundorganisation ETA für die Unabhängigkeit des Baskenlands seit den späten Sechzigerjahren nach sich zog.

Auch diesem zentralen Trauma wendet sich "Kalebegiak" zu. In der Kurzdoku "Testimonio" ("Zeugnis") des Regisseurs Daniel Calparsoro steht die deutsche Universätsdozentin Barbara Dührkop, die seit 1978 in San Sebastián lebt, vor einer Klasse von Mittelschülern und erzählt ihnen, wie sie im Februar 1984 mit dem ETA-Terror konfrontiert wurde. "Eines Tages erhielt ich einen Anruf, ich solle nach Hause kommen, es sei etwas passiert", erzählt sie. Was sie dann erlebte, erwies sich als dramatischer Einschnitt in ihr Leben: Ihr Ehemann, der baskische Politiker Enrique Casas, ein Abgeordneter der Sozialistischen Partei im baskischen Regionalparlament, war vor den Augen seiner Kinder von einem ETA-Terrorkommando erschossen worden.

Zeugnis ablegen vor der jungen Generation

Für die Schüler, denen sie das im Film erzählt, sind die blutigen Terrorjahre der ETA in etwa so weit weg, wie für deutsche Jugendliche der Eiserne Vorhang, die Berliner Mauer oder der Nazi-Terror. Die junge Generation, ob im Baskenland oder in Deutschland, kennt diese Epochen der gewaltsamen Auseinandersetzung nur noch vom Hörensagen.

Doch wie auch die Deutschen das Dritte Reich als permanente Mahnung betrachten, so versteht "Testimonio"-Regisseur Calparsoro die Erinnerung an den ETA-Terror als Memento: "Das Zeugnis von Barbara Dührkop spiegelt sehr gut und lebhaft die Atmosphäre wieder, die in den Achtzigerjahren in San Sebastián herrschte. Es ist sehr wichtig, dies nicht zu vergessen."

Soll heißen: Der Blick in die Vergangenheit möge sicherstellen, dass so etwas nie wieder passiert. Die Achtzigerjahre markierten den Höhepunkt der Gewalt im Baskenland. Endgültig abgeschworen hat die ETA dem bewaffneten Kampf allerdings erst vor sechs Jahren - am 20. Oktober 2010.

Angebote einer Katharsis - mal mehr, mal weniger

Dieser Jahrestag war ein Grund, warum San Sebastián die Würde der Europäischen Kulturhauptstadt in diesem Jahr zufiel, und die Stadt bemühte sich, der daraus abzuleitenden Verpflichtung gerecht zu werden. In ihrem Programm unter dem Titel "Friedensvertrag" thematisierten die baskischen Kuratoren ihre weit zurückreichende Geschichte der Gewalt und der Bemühungen, diese zu überwinden, die neben dem ETA-Terror weitere blutige Auseinandersetzungen beinhaltet: etwa die französische Belagerung und Zerstörung San Sebastiáns von 1813, oder das 16. Jahrhundert mit seiner Vertreibung von Juden und allen, die als Ungläubige angesehen wurden.

Dazu passte, dass auch der Wettbewerb des Filmfestivals die Gewalt auffallend oft zu seinem Thema machte, wobei die Angebote einer Katharsis deutlich spärlicher ausfielen als im Kulturhauptstadt-Programm.

In dem spanischen Film "El hombre de las mil caras" ("Der Mann mit den tausend Gesichtern") greift Regisseur Alberto Rodriguez den Fall des schillernden Spitzels, Gigolos, Waffenhändlers und Gauners Francisco Paesa auf, der in den 1980er und 1990er Jahren mit dem damaligen Guardia-Civil-Chef Luis Roldán erst ein riesiges Rad aus Korruption, Veruntreuung und Vertuschung drehte und seinen Kompagnon dann verpfiff.

Zu Rodriguez' zwielichtigem Politthriller gehört eine kriminelle Energie, die vor Mord nicht zurückschreckt, doch die Darstellung der Gewalt fiel im Vergleich zu etlichen weiteren Wettbewerbsfilmen harmlos aus.

Keine Gnade für Selbstbekenner

64. Internationales Filmfestival San Sebastián: Chile als kalte Gesellschaft: Alejandro Goic (links) und Gastón Salgado in "Jésus".

Chile als kalte Gesellschaft: Alejandro Goic (links) und Gastón Salgado in "Jésus".

(Foto: Festival)

Wahrhaftig quälende Gewaltsequenzen mutete etwa der Chilene Fernando Guzzoni dem Publikum in dem Vater-Sohn-Drama "Jésus" zu. Der 18-jährige Jésus (glänzend dargestellt von Nicolas Duran) zerbricht in dem Film daran, gemeinsam mit seinen saufenden und kiffenden Amigos im Drogenrausch einen zufällig angetroffenen Betrunkenen in einem Park in Santiago de Chile ins Koma geprügelt zu haben.

Doch die chilenische Gesellschaft, wie sie der Film darstellt, verzeiht in ihrer unbarmherzigen sozialen Kälte keinen Selbstbekennern - nicht einmal unter nächsten Angehörigen. Der Film endet mit dem ultimativen Verrat von Jésus' Vater am Sohn. Regisseur Guzzoni interpretierte den Vertrauensbruch in der Pressekonferenz als Spätfolge der gewalttätigen Politik in den Pinochet-Jahren, die aus seiner Sicht menschliche Beziehungen bis tief hinein in die Familien zerrüttet hat.

Sind wir in Europa da nicht viel werteorientierter, nachdem wir unseren Pinochet in Form von ETA oder sozialistischer Dikatur überwunden haben?

Eine Mischung aus innerer Leere und Gefühl der Macht

An solchen Selbstvergewisserungen konnte man in San Sebastián etwa bei dem verstörenden polnischen Beitrag "Plac Zabaw" ("Playground") erhebliche Zweifel bekommen. Der Erstlings-Spielfilm des jungen Filmemachers Bartosz Kowalski erzählt in sechs Kapiteln die Chronik einer Bluttat, die tiefe Fassungslosigkeit auslöst.

Basierend auf einem realen Mordfall aus dem Jahr 1993 in Liverpool, als zwei Zehnjährige den knapp dreijährigen James Bulger ermordeten, erzählt "Playground" die Geschichte der zwölfjährigen Schüler Szymek (Nicolas Przygoda) und Czarek (Przemysław Baliński), die in einer polnischen Kleinstadt in sozial verwahrlosten Verhältnissen leben und am letzten Tag des Schuljahres einen kleinen Jungen entführen und diesen am Rande von Bahngleisen aus einer Mischung aus innerer Leere und dem Kick des Machtgefühls erschlagen.

Kowalski und sein Ko-Drehbuchautor Stanisław Warwas entziehen den Film dem realen Mordfall, indem sie die Täter etwas älter machen und in den ersten fünf Kapiteln ihre eigene fiktive Geschichte erzählen. Es geht ihnen nicht um die psychologische Aufklärung des Falles Bulger - ihr Ermittlungsinteresse gilt der Gesellschaft im Allgemeinen.

Gemunkel um "Nocturama" von Bertrand Bonello

Ohne eindeutige Antworten zu geben, deuten sie an, dass diese moderne westliche Welt wohl kein guter Ort für Kinder und Jugendliche ist: Vernachlässigung durch die Eltern in zunehmend gespaltenen Gesellschaften, die Übersexualisierung schon von Kindern und stets zugängliche Gewaltdarstellungen in Videospielen und sozialen Medien - all das mag am Schluss zu einer solch ungeheuerlichen Tat führen, wie sie "Playground" in San Sebastián so schmerzhaft darstellte, dass viele Zuschauer aus der Premierenvorstellung flüchteten.

Vor weiteren Grenzerfahrungen mit Darstellungen der Gewalt rettete sich das Publikum des diesjährigen Wettbewerbs in San Sebastián dadurch allerdings nicht. Der Franzose Bertrand Bonello zeigte in seinem umstrittenen Beitrag "Nocturama" zehn junge Erwachsene, die in Paris Bombenattentate und Morde begehen, und am Schluss von der Staatsmacht erbarmungslos niedergemetzelt werden.

Gerüchteweise hieß es, der Film sei wegen seiner thematischen Nähe zum Anschlag von Paris im November 2015 von den Wettbewerbs-Programmierern in Cannes abgelehnt worden. Bonello bestätigte die entsprechende Nachfrage bei der Pressekonferenz in San Sebastián zwar nicht, doch er dementierte auch nicht. Wer den Film gesehen hatte, konnte sich vorstellen, dass am Gemunkel etwas dran war.

Zwanzigjährige als Entdeckung

Auf diese Weise ging es iweiter: In dem Thriller "Der Eid" präsentierte der Isländer Baltasar Kormákur einen respektierten Herzchirurgen, der zum brutalen Mörder wird, weil er die Psychose entwickelt, seine Tochter vor einem Drogen-Dealer beschützen zu müssen.

Und in dem überzeugenden Spielfilm-Erstling "Lady Macbeth" des britischen Theatermannes William Oldroyd ermordet eine junge Frau im viktorianischen England zusammen mit ihrem Liebhaber alle Menschen, die ihr im Weg stehen, um damit einer despotischen Ehe und den Zwängen ihrer Zeit zu entkommen.

In der Kino-Adaption von Nikolai Leskows Novelle und Dmitri Schostakowitschs Oper "Lady Macbeth von Mzensk" präsentiert sich die zwanzigjährige Florence Pugh nicht nur als strahlende Schönheit in der Titelrolle, sondern beweist auch großes schauspielerisches Talent, um sehr überzeugend die Wandlung des jungen naiven Opfers Katherine in eine selbstbewusste Frau darzustellen, die ihre Interessen in einer erbarmungslosen Welt rücksichtslos vertritt.

64. Internationales Filmfestival San Sebastián: Katherine (Florence Pugh) geht in "Lady Macbeth" ihren Weg - ohne Rücksicht auf Verluste.

Katherine (Florence Pugh) geht in "Lady Macbeth" ihren Weg - ohne Rücksicht auf Verluste.

(Foto: Festival)

Oldroyd gelingt es mit seiner Kamerafrau Ari Wegner zudem, das Bühnenstück in kraftvolles und sinnliches Kino zu überführen.

Jury leistet sich gleich zwei Fehlentscheidungen

Am Ende war in San Sebastián viel dabei, was auszeichnungswürdig gewesen wäre, doch unverständlicherweise fanden die besseren Filme bei der Jury unter dem dänischen Oscar-Preisträger Bille August nur in einem Fall Beachtung: Eduard Fernández, der Darsteller von Francisco Paesa, dem "Mann mit den tausend Gesichtern", war ein würdiger Laureat der Silbernen Muschel für die beste männliche Hauptrolle.

Der Hauptpreis - die Goldene Muschel - ging hingegen an einen der schwächsten Wettbewerbsbeiträge - an die bärbeißige chinesische Sozialsatire "Ich bin nicht Madame Bovary": Die längliche Persiflage handelt von einer trotzigen Restaurantbesitzerin in der Provinz, die von ihrem Mann hinters Licht geführt wurde und sich daraufhin in einem jahrelangen Kampf gegen die verkrustete chinesische Bürokratie auflehnt.

Der Film verfehlt sein Ziel, die Absurditäten des chinesischen Amtsschimmels anzuprangern, weil Regisseur Xiaogang Feng offensichtlich nicht wusste, ob er lustig oder eindringlich sein wollte. Manchmal ist "Ich bin nicht Madame Bovary" von geradezu läppischer Albernheit, um dann wieder in übermäßiges Pathos und dick aufgetragene Melodramatik abzukippen.

Dazu trägt das aufgesetzte Spiel der Hauptdarstellerin Bingbing Fan erheblich bei. Dass ausgerechnet sie mit der Silbernen Muschel für die beste weibliche Hauptrolle geehrt wurde, war die zweite krasse Fehlentscheidung der Jury.

64. Internationales Filmfestival San Sebastián: Bingbing Fan: Sie erhielt für ihre Darstellung einer betrogenen Frau in China (Szenenbild) die Silberne Muschel für die beste weibliche Hauptrolle.

Bingbing Fan: Sie erhielt für ihre Darstellung einer betrogenen Frau in China (Szenenbild) die Silberne Muschel für die beste weibliche Hauptrolle.

(Foto: Well Go USA Entertainment)

Und so wird es dem britischen Regisseur William Oldroyd womöglich ähnlich gehen wie der deutschen Regisseurin Maren Ade mit ihrem gefeierten Film "Toni Erdmann" dieses Jahr in Cannes. Denn wie Ade an der Croisette galt Oldroyd unter den Beobachtern in San Sebastián als Favorit auf den Hauptpreis. Doch wie Ade blieb ihm am Schluss nur die Ehrung durch die Kritikervereinigung Fipresci.

Allerdings ist die Award Season ist noch lang - der Europäische Filmpreis sowie die Auszeichnungen angesehener Festivals wie in Zürich, London und Thessaloniki werden erst noch vergeben - die Namen Ade und Oldroyd dürften da mitunter auftauchen.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: