In Karlsbad (Karlovy Vary) wird viel gebaut, gerade entsteht ein neuer Wohn-Komplex am Brezovy-Damm. Der ist zwar zehn Kilometer vom pittoresken Zentrum der böhmischen Barock-Perle entfernt, doch dafür ist hier am Wasser und inmitten der runden Waldhügel des auslaufenden Erzgebirges noch genügend Platz, der einigermaßen erschwinglich ist. Seit sich die Russen in Karlsbad einkaufen, steigen die Immobilienpreise steil an, da werden entferntere Lagen interessant, zumal wenn sie mit landschaftlicher Schönheit punkten können.
Karlovy Vary, wie Goethes bevorzugtes Heilbad auf tschechisch heißt, ist bedeutender als seine Größe vermuten lässt - die Zahl der Fünf-Sterne-Hotels ist beachtlich, der Adel aus ganz Europa trifft sich hier regelmäßig und es ist schon etwas Besonderes, dass sich ein 50.000-Einwohner-Ort einen Flughafen leisten kann, auf dem regelmäßig Maschinen aus Moskau, Sankt Petersburg oder Antalya landen.
Größe und Bedeutung beansprucht auch das Internationale Filmfestival, das hier regelmäßig in der ersten Juliwoche stattfindet. Mit seinem Gründungsjahr 1946 zählt das Karlsbader Festival neben den Filmschauen von Moskau, Venedig, Cannes und Locarno zu den traditionsreichsten Veranstaltungen dieser Art und wird bis heute in der prestigeträchtigen Liste der 13 weltweit ausgerichteten A-Festivals geführt.
Seit Jahren unter "Ferner liefen"
In dieser ersten Liga der internationalen Filmfestspiele sind die Champions-League-Plätze und die restlichen Positionen im mittleren und unteren Tabellenbereich seit Jahrzehnten allerdings klar vergeben. Cannes, Venedig, Berlin - so heißt zur Zeit wohl die Reihenfolge der ersten drei Ränge. Dann kommt erst mal lange nichts, bevor Locarno als Anführer der kleinen A-Festivals in Erscheinung tritt. Die restlichen Filmfestspiele dieser Gattung, ob in Karlovy Vary, San Sebastian, Moskau, Mar del Plata oder Warschau, spielen sich hingegen schon seit Jahren in der Kategorie "Ferner liefen" ab. Für die Festivalmacher vor Ort muss sich das anfühlen wie für Manager von Fußballvereinen wie dem 1. FC Nürnberg - immer mit dabei, aber irgendwie kaum wahrgenommen.
Die Karlsbader Festivalmannschaft hat seit dem vergangenen Jahr allerdings einen neuen Teamchef, und der will die Sichtbarkeit seiner Filmschau erhöhen - so viel wurde im zweiten Jahr unter der Ägide von Programmdirektor Karel Och zumindest deutlich, doch dazu später mehr.
Es sei nämlich vorausgeschickt, dass es wesentlich schwieriger ist, in der festgefügten Liga der Filmfestivals zu avancieren als einen Ort mit Fünf-Sterne-Häusern aufzuwerten oder eine Mannschaft wie Hoffenheim im Oberhaus des deutschen Fußballs zu platzieren - für solche Erfolgsstorys bedarf es in erster Linie lediglich des vielen Geldes. Eine dicke Brieftasche allein reicht für die Aufwertung eines Festivals wie Karlsbad aber nicht aus. Dafür haben sich die Muster der Ehrerbietung im internationalen Filmgeschäft über die Jahrzehnte zu stark eingeschliffen.
So ist die bloße Wettbewerbsnominierung in Cannes beispielsweise deutlich mehr wert als ein Sieg in Karlovy Vary. Filmemacher versuchen daher mit ihren neuen Arbeiten erst einmal in Cannes, Berlin oder Venedig unterzukommen, werden sie dort abgewiesen, wenden sie sich nach Locarno. Erst, wenn sie auch dort einen Korb bekommen, erwägen sie eine Wettbewerbsteilnahme in Karlsbad. Nicht allerdings ohne noch einmal genau zu überlegen, ob es vielleicht nicht doch besser wäre, ihren Film im "Panorama", also einer Nebenreihe der Berlinale, unterzubringen.
Programmdirektoren wie Karel Och, die bei dieser Ausgangslage ein Festival aufwerten wollen, haben nur eine Chance: Sie müssen Trends und Talente früher erkennen als die Konkurrenz, und gemessen an dieser Herausforderung durfte man auf den Karlsbader Wettbewerb in diesem Jahr durchaus gespannt sein. Das zuletzt wegen der Arbeiten von Athina Tsangari und Giorgos Lanthimos vielgepriesene Kino Griechenlands war beispielsweise durch das Erstlingswerk "To agori troi to fagito tou pouliou - Junge isst Vogelfutter" von Ektoras Lygizos vertreten, und mit der Iranerin Leila Hatami schmückte in "Peleh akhar - Der letzte Schritt" von Ali Mosaffa eine der erfolgreichsten Schauspielerinnen der vergangenen zwei Jahre die Hauptreihe des Festivals. Für ihre Darstellung der "Simin" in Asghar Farhadis "Nader und Simin - Eine Trennung" war Hatami mit dem Silbernen Bären 2011 ausgezeichnet worden, der Film räumte zudem den Hauptpreis der letztjährigen Berlinale und den diesjährigen Auslands-Oscar ab - viel mehr Glanz und Gloria kann ein Filmkünstler kaum zusammentragen.
Doch sowohl Lygizos als auch Mosaffa enttäuschten - beide Filme waren zu sehr dem sehr speziellen künstlerischen Anspruch ihres jeweiligen Machers verpflichtet als dass sie das Publikum zu erreichen vermochten.
So fiel es trotz der aktuellen Relevanz des Themas Griechenland-Krise schwer, Empathie für den hungernden Protagonisten (gespielt von Jannis Papadopoulos) in "Junge isst Vogelfutter" zu entwickeln. Weil ihn Lygizos arbiträr und meist stumm durch Athen stolpern und verzweifelt nach Essbarem für sich und seinen Kanarienvogel suchen lässt, bleibt die Figur abstrakt - der Zuschauer erfährt so gut wie nichts über den Darbenden und sein soziales Umfeld. Wenn die Mutter nur als kaum vernehmbare Stimme für ein paar Sekunden am anderen Ende des Telefons in Erscheinung tritt, dann wirkt sein verletzter Stolz ihr gegenüber zwangsläufig künstlich.
Und auch Ali Mosaffa machte es dem Zuschauer in seinem zweiten Spielfilm nicht leicht, die Entfremdung eines Ehepaares in seiner auf mehrere Zeit- und Perspektivebenen aufgespaltenen Geschichte nachzuvollziehen. Es geht darum, sich selbst zu achten, um für andere achtenswert zu bleiben - ein spannendes Thema, das der Regisseur aber so maniriert aufarbeitet, dass es blutarm bleibt und zwar trotz Leila Hatamis imposanter Leinwandpräsenz, für die sie als beste Darstellerin des Karlsbader Wettbewerbes ausgezeichnet wurde.
Magischer Realismus wertet Migrantendrama auf
Blieb die dritte große Hoffnung auf eine Entdeckung - Hüseyin Tabak, der als Zögling des mehrfachen Cannes-Gewinners Michael Haneke unweigerlich Interesse auf sich zog. Und tatsächlich hinterließ der Deutsch-Kurde bei seinem Spielfilm-Debüt "Deine Schönheit ist nichts wert..." einen starken Eindruck.
Die Geschichte des zwölfjährigen Kurdenjungen Veysel (Abdulkadir Tuncer), dem weder in der Türkei noch in Wien eine Heimat beschieden zu sein scheint, ist ergreifend, ohne ins Rührselige abzugleiten. Tabak, der mit "Deine Schönheit ist nichts wert..." sein Regiestudium an der Filmakademie Wien abschloss, verschafft dem Film ein interessantes Spannungsverhältnis, das zwischen den romantisch-idyllischen Tagträumen Veysels und der beklemmenden Realität des Immigrantendaseins entsteht. Die magisch-realistische Erzählweise funktioniert bei dieser Thematik hervorragend - erst sie verschafft dem Drama die herzergreifende Qualität.
Der Hauptpreis des Festivals ging in diesem Jahr schließlich an einen Film, der leichter verdaulich ist und beim breiten Publikum größere Chancen hat: Für seine Komödie "Mer eller mindre mann - Fast ein Mann" über einen 35-Jährigen, dem es schwer fällt, erwachsen zu werden und sich den Pflichten eines werdenden Vaters zu stellen, erhielt der Norweger Martin Lund den mit 25.000 Dollar dotierten Kristallglobus.
Das aktuelle norwegische Kino produziert im Augenblick auffällig viele Filme über junge Menschen mit Identitätsproblemen (z. B. Bent Hammers "Home for Christmas", 2010) und entsprechend begründete Lund seine Themenwahl in Karlsbad mit den vielen Möglichkeiten, die Norwegen jungen Menschen biete, lange im Leben "herumzuspinnen". "Wir kennen viele solche Männer in Oslo", sagte auch Hauptdarstellerin Janne Haarseth.
Die Entscheidung der Jury unter dem amerikanischen Programmdirektor Richard Peňa ging in Ordnung, denn "Fast ein Mann" erwies sich zwar als zu schematisch geraten und wiederholt sich etwas zu häufig, doch in einem insgesamt schwachen Wettbewerb zählte der Film neben "Deine Schönheit ist nichts wert..." zu den Lichtblicken. Die offensichtliche Strategie Ochs, seinen Wettbewerb mit Erst- und Zweitfilmen (auch "Fast ein Mann" war erst der zweite Spielfilm Martin Lunds) von Regisseuren aus dem Umfeld erfolgreicher Filmmacher aufzuwerten, ging in diesem Jahr somit nicht auf.
Bereits 2011, in seinem ersten Jahr als Karlsbader Programmdirektor, hatte Och auffallend viele Debütanten in den Wettbewerb gehievt, was da noch überraschend gut funktionierte.
Doch wie riskant dieses Kalkül ist, zeigte sich in diesem Jahr in Karlsbad nicht nur im Wettbewerb, sondern auch in der Reihe "East of the West". Diese zweite wichtige Sektion des Festivals steht seit jeher ausschließlich Filmen aus dem Kulturkreis Mittel- und Osteuropas offen, doch nun wurde der Zugang noch weiter eingeschränkt - seit diesem Jahr werden nur noch erste und zweite Spielfilme eines Regisseurs zugelassen.
Die Strategie, die hinter dieser Vorgehensweise steht, ist klar. Sie verhindert erstens, dass erfolgreiche Regisseure die Sektion als bloße weitere Abspielfläche ihrer Filme nutzen, wie etwa Sergej Dvortesevoj, der 2008 für "Tulpan" mit dem East-of-the-West-Award ausgezeichnet wurde, oder wie Cristi Puiu, der den Preis 2010 für "Aurora" bekam - zuvor waren beide Regisseure mit ihren Filmen schon in Cannes gewesen. Zweitens bietet sie die Chance, mit Überraschungserfolgen auf Karlsbad aufmerksam zu machen. Doch sie birgt drittens die Gefahr eines Qualitätsverlustes, und dieser trat in diesem Jahr leider ein.
Positiv herausragend
Allerdings fällte die Jury unter dem mazedonischen Regisseur Wladimir Blazevski die richtige Entscheidung, indem sie Eva Neymann den East-of-the-West-Award für ihren Film "Dom s baschenkoj - Haus mit Türmchen" zuerkannte. Der Film nach der gleichnamigen autobiografischen Romanvorlage des russischen Schriftstellers und Drehbuchautors Friedrich Naumowitsch Gorenstein ragte unter den vielen durchschnittlichen Produktionen der Reihe deutlich positiv heraus.
Der Zuschauer blickt durch die Augen eines achtjährigen Jungen auf das Leben im geschundenen Russland während des vorletzten Kriegsjahres. In ruhigen Schwarz-Weiß-Bildern fängt der litauische Kameramann Rimmvydas Leipus das alltägliche Drama um Menschen ein, die vom ständigen Hunger und der Omnipräsenz des Todes so abgestumpft sind, dass sie dem Leid um sie herum nur noch mit Gleichgültigkeit begegnen können.
In ihrem Nachruf auf den 2002 verstorbenen Gorenstein ehrte die Frankfurter Allgemeine Zeitung den nach Berlin emigrierten Russen als Meister des episodischen Erzählens - eine Kunst die Regisseurin Neymann in ihrem Film gekonnt umzusetzen vermochte. Auch die Ukrainerin lebt in Deutschland - die Chancen, das "Haus mit Türmchen" in hiesigen Kinos sehen zu können, stehen also gar nicht schlecht.
Der Autor dieses Artikel war während des Festivals Juror und Filmkritiker der Karlsbader Festivalzeitung Festivalový Denník .