Süddeutsche Zeitung

Internationales Filmfestival Karlovy Vary 2016:Zitternde Helden

Jamie Dornan und Cillian Murphy als tschechoslowakische Attentäter: Das Drama Anthropoid passte gut zum Filmfestival im böhmischen Karlsbad. Es erzählt den spektakulären Fall mit psychologischem Feingefühl nach.

Von Paul Katzenberger

Bei den Oscars feiert sich Hollywood meist selbst - mit einer Ausnahme: dem Academy Award für den besten fremdsprachigen Film. Und da stach in den vergangenen zwei Jahren Osteuropa heraus: Der Fremdsprachen-Oscar ging jeweils in diese Weltregion, vergangenes Jahr nach Polen für Pawel Pawlikowskis "Ida" und 2016 nach Ungarn für László Nemes' "Son of Saul".

Das osteuropäische Kino ist für seine Qualitäten in jüngerer Zeit also von höchster Stelle geadelt worden. Es verdient daher womöglich mehr Aufmerksamkeit, als es in Deutschland häufig bekommt, zumal es sich vor der Haustür abspielt. Dennoch mussten die meisten osteuropäischen Filmemacher erst einmal um die halbe Welt zur Preisverleihung an den Hollywood Boulevard gereist sein, um anschließend überhaupt die Chance für einen deutschen Kinostart zu bekommen.

Dennoch ist es für Deutsche nicht schwer, das aktuelle osteuropäische Kino zu erleben, auch wenn es nicht mit einem Oscar ausgezeichnet wurde: Nur 35 Kilometer von der deutschen Grenze entfernt, lädt jährlich im Juli das A-Festival im böhmischen Karlsbad (Karlovy Vary) die interessantesten Filmemacher aus Osteuropa ein, um in dem Barockjuwel aus der Habsburger Zeit ihre Werke zu präsentieren: Karlsbad hat sich auf das osteuropäische Filmschaffen spezialisiert.

Als ob es darum ginge, die unterschiedlichen Wahrnehmungen im Osten und Westen Europas zu vereinen, ging es in diesem Jahr los: Der englische Regisseur Sean Ellis eröffnetet mit der Weltpremiere der britisch-tschechisch-französischen Ko-Produktion "Anthropoid" das Festival.

Der Titel des Dramas, das im August schon in die US-Kinos kommt, bezieht sich auf den Decknamen "Operation Anthropoid" für das im Mai 1942 in Prag verübte Attentat auf den SS-Obergruppenführer Reinhard Heydrich, der ein grausames Regiment in der vom Deutschen Reich annektierten Tschechoslowakei führte. Wegen der vielen Hinrichtungen unter ihm hieß er im Volksmund "der Schlächter von Prag".

Ironische Anspielung auf das NS-Konzept des "Herrenmenschen"

Der Deckname der militärischen Operation verwies auf die lateinische Bezeichnung "Anthropoidea" für höhere Primaten, das heißt Herrentiere oder Affen. Er war eine ironische Anspielung auf das NS-Konzept des "Herrenmenschen", für das Heydrich stand. Verübt wurde das Attentat von den zwei tschechoslowakischen Widerstandskämpfern Jan Kubiš und Jozef Gabčík

Es war der einzig erfolgreiche Anschlag auf ein Mitglied der Führungsschicht des nationalsozialistischen Deutschland und er endete wie ein Shakespeare-Drama tragisch, sodass er schon etliche Male zum Gegenstand von Verfilmungen wurde: Nur ein Jahr nach dem Attentat begann Douglas Sirk seine große Karriere in Hollywood mit dem Film "Hitler's Madman" (1943) zum Thema, danach folgten der tschechische Regisseur Jiří Sequens mit "10 Uhr 30: Attentat" (1965) und der britische Filmemacher Lewis Gilbert mit "Operation: Daybreak" (1975).

In Hollywood hat der Franzose Cédric Jimenez geraden seinen Thriller "HhhH" mit Stars wie Rosamund Pike und Mia Wasikowska abgedreht, der sich ebenfalls um das Heydrich-Attentat dreht.

Doch keiner dieser Filme handhabt das Attentat so, wie es seinerzeit ausgeführt wurde: als gemeinschaftliches Werk von Briten und Tschechen, genauer: der britischen Spezialeinheit "Special Operations Executive" und der tschechoslowakischen Exilregierung in London.

Nur Ellis bringt in seinem Film nun beide Völker im weiteren Sinne zusammen. Dafür sorgte allein schon die Premiere dieser maßgeblich angelsächsischen Großproduktion beim wichtigsten Filmfestival Osteuropas, das im Westen trotz seiner langen Tradition wenig Aufmerksamkeit erfährt.

Die zwei Hauptfiguren Kubiš und Gabčík werden von Jamie Dornan ("Fifty Shades of Grey") und Cillian Murphy ("Inception") dargestellt, während mit Aňa Geislerová die bekannteste Schauspielerin Tschechiens in die tragende Rolle der Gabčík-Freundin Lenka Fafková schlüpft.

Das Ergebnis ist überzeugend: Lewis Gilbert etwa blieb in seinem 40 Jahre alten Film "Operation Daybreak" näher an den historischen Fakten, doch Ellis gelingt es durch die etwas freiere Interpretation seines Thrillers eine psychologische Ebene einzuziehen, die bei Gilbert fehlt: Heldentum ist eine ehrenhafte Angelegenheit, doch Heroismus in dem Ausmaß, wie er hier gezeigt wird, hat seinen Preis. In "Anthropoid" äußert sich dieser in zitternden Händen der beiden Helden, in ihrer Schnappatmung, in offen dargestellter Angst bis hin zur Panik. Helden sind auch nur Menschen. Gerade dadurch, dass der Film dies zum Thema macht, stellt er ihren besonderen Mut heraus.

Die inneren Prozesse, die sich bei Stress abspielen, zeigte in Karlsbad auch der slowenische Regisseur Damjan Kozole in seinem Wettbewerbsbeitrag "Nightlife" auf, der vom Alptraum eines wohlhabenden Paares in Ljubljana handelt: Nachdem der Star-Anwalt Milan (Jernej Sugman) nahezu unbekleidet und mit lebensbedrohlichen Verletzungen unter merkwürdigen Umständen mit einem Dildo auf der Straße gefunden wird, muss sich seine Ehefrau Lea (Pia Zemljic) im Flur vor dem Operationssaal allmählich fragen, ob ihr Ehemann womöglich ein Doppelleben führte.

Hauptpreis geht nach Ungarn

In all ihrer Verwirrung muss sie dann auch noch dafür sorgen, dass die Presse ihren Mann, der wegen seines Berufs viele Feinde hat, nicht noch mehr zurichtet als er es durch die körperlichen Wunden ohnehin schon ist.

Das alles spielt sich im Laufe einer Nacht ab, und dass die zunehmende Verunsicherung Leas mit Händen zu greifen ist, verdankt der Film dem großartigen Spiel Zemljics, in deren Gesicht sich nach der anfänglichen Verstörung über die Lage ihres Mannes zunehmend bohrender Zweifel frisst. Regisseur Kozole bekam für das Drama mit Recht den Regiepreis des Festivals zuerkannt.

Um unausgesprochene Geheimnisse unter Ehepaaren ging es auch im großen Siegerfilm dieses Karlsbader Jahrgangs. Das Drama "It's not the time of my life" des ungarischen Regisseurs Szabolcs Hajdu wurde nicht nur mit dem Kristallglobus, dem Hauptpreis des Festivals, ausgezeichnet, sondern der Preis für die beste männliche Hauptrolle ging ebenfalls an Hajdu, der für den Film auch das Drehbuch geschrieben hat.

Humorvoller Blick auf eingefahrene Ehen

Es geht um zwei Schwestern, die ohne Vorwarnung mit ihren Familien eine Wohnung in Budapest teilen müssen, nachdem eine der Familien überstürzt aus Schottland zurückgekehrt ist, wohin sie versuchte auszuwandern und nun reumütig zurückkehrt.

Es entwickelt sich ein bisweilen quälendes, oft berührendes und ab und zu komisches Zusammenspiel der vier Erwachsenen und ihrer zwei Kinder, das einen einfühlsamen und humorvollen Blick auf die gängigen Konflikte eingefahrener Ehen offenbart. Dabei verleiht es dem Film zusätzliche Authentizität, dass Hajdu seine Frau Orsolya Török-Illyés im echten Leben und ihren gemeinsamen Sohn Zsigmond neben sich für den Film besetzte, um das eine Ehepaar zu spielen. Hajdus Tochter Lujza gibt im Film die Juniorin der anderen Familie.

Ob das allerdings für einen Oscar reicht, darf bezweifelt werden. Die zeitgenössische Thematik der meisten diesjährigen Wettbewerbsfilme lief gegen den Trend, dass Filme mit historischen Stoffen oft den größten internationalen Zuspruch bekommen. Die Oscar-Preisträger "Son of Saul" und "Ida" etwa spielen beide tief im vergangenen 20. Jahrhundert.

Filme aus der Region werden auf Festivals wegen ihrer hohen Qualität häufig freundlich aufgenommen. Doch den größten Applaus bekommen immer noch die, die die Kämpfe und Triumphe der Vergangenheit zum Thema machen.

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