Internationaler Bestseller:Das Grau nimmt Gestalt an

Peter Høeg mischt in seinem Roman "Durch deine Augen" Science-Fiction und Lebenskunst.

Von Thomas Jordan

Peter Hoeg

Peter Høeg, Jahrgang 1957, wurde mit dem Roman „Fräulein Smillas Gespür für Schnee“ berühmt.

(Foto: Robin Skjoldborg)

Was braucht es, um die eigenen Traumata aufzuarbeiten? Laut Peter Høeg dreierlei: eine Brille mit eingebautem Laserprojektor, eine Betäubungspille, und einen verständnisvollen Partner mit leichtem Hang zur Esoterik. "Durch deine Augen", der neue Roman des dänischen Bestseller-Autors Peter Høeg ist eine Mischung aus Science-Fiction und angewandter Lebenskunst, die neben feinfühligen Beziehungsbeobachtungen auch viel Kitsch enthält.

Wer Høegs Vorgänger-Romane gelesen hat, wird von diesem Sound nicht überrascht sein. Im Vergleich zu den überdrehten Verschwörungs-Plots von "Der Susan-Effekt" und "Die Kinder der Elefantenhüter" wirkt der Däne hier aber wieder deutlich fokussierter und konzentriert sich stärker darauf, eine Kernhandlung zu verfolgen. Neu ist auch, dass die bei Høeg obligatorische Heldin mit übersinnlichen Fähigkeiten einen männlichen Ich-Erzähler an die Seite gestellt bekommt, der zum eigentlichen Protagonisten des Romans wird.

"Durch deine Augen" erzählt die Geschichte dreier Freunde aus Kindertagen, die - jeder auf eine andere Weise - auf der Suche nach "wirklichen Begegnungen" mit anderen Menschen sind, wie es Høegs Protagonist Peter einmal formuliert. Dessen Jugendfreund Simon verzweifelt an dieser Sehnsucht, anderen Menschen durch die Panzer der Gewohnheit und des Selbstschutzes hindurch nahezukommen. Gleich zu Beginn des Romans versucht Simon, sich das Leben zu nehmen.

Das Leiden des Dritten wird im Roman zum Anlass für die Annäherung zwischen den beiden Anderen: dem geschiedenen Familienvater Peter und der Ärztin Lisa. Oder besser gesagt, zur Wiederannäherung. Nach dem frühen Tod ihrer Eltern hatte die siebenjährige Lisa, die als Kind in ihren Träumen einen direkten Draht zum Übersinnlichen besessen hatte, jede Erinnerung an ihre Vergangenheit und ihre Spielkameraden Peter und Simon verloren.

Weil es bei Peter Høeg keine Zufälle gibt und stets alles mit allem zusammenhängt, hat Lisa später, als erfolgreiche Ärztin, ein futuristisch anmutendes neurologisches Verfahren entwickelt, um die menschliche Erinnerung zu erforschen. Eine Art holografisch erweiterte Gesprächspsychotherapie für Patienten mit unerklärlichen Leiden.

Damit geht in Høegs Roman ein Menschheitstraum in Erfüllung: Angeleitet von den Fragen der Ärztin begegnen die Patienten sich selbst. Mit Hilfe neuester medizinischer Technik durchleuchtet Lisa die Körper und misst die Gehirnaktivität ihrer Patienten. Daraus projiziert sie dann eine Live-3D-Simulation der Summe all ihrer Messdaten dieser Person auf einen Stuhl. An dieser mithilfe von Lichtwellen erzeugten Gestalt leuchten dann - je nachdem welche Erinnerungen der Patienten angesprochen werden - die jeweiligen Körperareale in verschiedenen Farben und zeigen somatische Muster schmerzlicher Erinnerungen.

Was sie dabei entdecken, ist für die Betroffenen oftmals nur schwer zu ertragen. Høeg fängt hier mithilfe seines futuristischen Versuchsaufbaus ein breites Spektrum der psychischen Leiden einer Gesellschaft in Bildern ein. Zu Lisa kommen Täter genauso wie misshandelte Teenager und traumatisierte Soldaten. Vom farblosen Abgrund der Depression über die Horrorvisionen steif gefrorener Geschlechtsteile bis zum totalen Verlust des Selbst und damit auch jeder Bildlichkeit eines jungen Missbrauchsopfers: In "Durch deine Augen" berichtet der Ich-Erzähler Peter, der im Laufe des Romans zum Assistenten der Ärztin Lisa wird, über das Leiden der Anderen. "Das Grau nahm Gestalt an. Es wurde zu einem verlassenen Kind. Ich sah ein kleines Kind vor mir, das allein, zurückgelassen auf einem nackten Fußboden liegt. Und ich sah es nicht nur, im selben Augenblick wurde ich selbst zu diesem Kind."

Bei Høeg wird die literarische Wahrnehmungsexpedition des Protagonisten zur Schule des Mitfühlens. Denn, und das ist die Pointe die sich durch den ganzen Roman zieht: erst wer in der Lage ist, sich in andere einzufühlen, kann sich selbst besser verstehen. Immer wieder folgen den Holografie-Sitzungen im Roman Rückblenden, in den sich Peter an die Orte und Abenteuer seiner Kindheit mit den Freunden Simon und Lisa erinnert. Sie werden am Ende zum Schlüssel für Peters eigene Geschichte, in der sich in esoterisch angehauchten Séancen die Grenzen zwischen Ich und Du, zwischen Vergangenheit und Gegenwart auflösen. Bis es soweit ist, und auch das fügt sich bruchlos in Høegs literarische Schule der Empathie ein, finden der alleinerziehende Familienvater und die Ärztin durch Mitleiden an den Schicksalen der Anderen immer näher zueinander.

Mitunter droht Høegs literarischer Fremd- und Selbsterfahrungsprozess von der Last psychologisierender Klischees erdrückt zu werden. Das liegt nicht zuletzt an der allzu glatten, typenhaften Darstellung der Figuren. Etwa, wenn gleich zu Beginn der Handlung Simon nach seinem Selbstmordversuch nur mit einem weißen T-Shirt bekleidet im Krankenbett als das erscheint, wie es im Roman heißt, "was er wirklich war. Ein kleines Kind."

Es ist vor allem das ahnungsvolle Raunen des Ich-Erzählers, das in seinem esoterischen Pathos auf Dauer zermürbend wirkt. Høeg reizt dabei die Grenze zur Selbstparodie auf das Äußerste aus - manchmal überschreitet er sie auch. Etwa wenn seinem Protagonisten ein Frühstück mit Lisa, bestehend aus Tee, Toast, Butter, Käse und Orangensaft zum "Symbol" wird, das er mit den Worten kommentiert: "Wir waren ein Mann und eine Frau, die zum ersten Mal den Hunger des anderen gesehen haben."

"Durch deine Augen" ist dagegen immer dort stark, wo Peter Høegs hyper-empathischer Ton seinen Gegenhalt in den menschlichen Abgründen findet.

Peter Høeg: Durch deine Augen. Aus dem Dänischen übersetzt von Peter Urban-Halle. Carl Hanser Verlag, München 2019. 335 Seiten, 24 Euro.

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