Internationale Poesie:Der reinen Wolken unverhofftes Blau

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Wort, Sound und Blues: Die Kölner "poetica 2", ein sehr lebendiges Festival der Weltliteratur, fragt nach dem Zusammenhang von Gedicht und Song. Mit Sjón und Autoren aus aller Welt.

Von Volker Breidecker

Das hatten sich die wenigsten unter den Studierenden und Akademikern vorgestellt, die sich im Alten Senatssaal der Kölner Albertus-Magnus-Universität unter den Porträts verblichener Magnifizenzen eingefunden hatten, um dem Treffen einer Reihe von Dichtern und Schriftstellern von Weltruf beizuwohnen: Statt hoher Töne und hehrer Verse wurde ihnen amerikanischer Bluesrock, ukrainischer Heavy Metal Sound baskischer Reggae und isländischer Folkrock und Pop serviert. Groß war da die Verlegenheit im Publikum, das in zwei Gruppen zerfiel: Die einen folgten dem unheimlichen Geschehen sichtlich verlegen oder mit stocksteifer Miene, die anderen wippten mit den Füßen und swingten rhythmisch mit Köpfen, Händen und Hüften.

Der isländische Lyriker und Romancier Sjón, Songschreiber für die Sängerin Björk, deren Lied "I've seen it all" aus Lars van Triers Film "Dancer in the Dark" für einen Oscar nominiert wurde, registrierte die so unterschiedlichen Reaktionsweisen im Saal mit dezentem Spott. Er war nicht der einzige Autor, der über seine Mehrfachrolle als Lyriker, Songschreiber und Musiker Auskunft gab: Zusammen mit Sjón am Konferenztisch saßen der baskische Lyriker und Romancier Bernardo Atxaga, dessen Gedichte von populären Sängern seiner Heimat vertont werden, der im nordamerikanischen Princeton lebende und lehrende nordirische Lyriker, Rockgitarrist und Songschreiber ("Nothing On You") Paul Muldoon sowie der ukrainische Romancier, Lyriker und Essayist Juri Andruchowytsch, dessen Gedichte von Rockbands vertont werden, während er selbst als Frontsänger mehreren Formationen - einer polnischen und einer schweizerischen - angehört.

Musikalisch versiert waren auch die übrigen Teilnehmer dieser Debatte über die Probleme von Gedichtvertonungen und die Beziehungen und Unterschiede zwischen dem Schreiben von Gedichten und Songs: Ilma Rakusa aus Zürich und Lavinia Greenlaw aus London - beide trugen in Köln hinreißende neue Gedichte vor - haben selbst Erfahrungen im Schreiben von Libretti gesammelt, und Greenlaw experimentiert überdies mit Klanginstallationen. Schließlich wollte sich die serbische Lyrikerin Ana Ristović da zumindest einmal vorstellen, wie ihre Verse von einer Death-Metal-Band vertont klingen würden, und intonierte das probeweise selbst schon einmal mit ihrer Stimme.

Hier wird in vielen Sprachen gesprochen - und gesungen

Das war nur eine von vielen Veranstaltungen im Rahmen der zweiten Ausgabe der Kölner "poetica", die eine ganze Woche lang an wechselnden Orten zwischen Universität und Schauspielhaus, Kino, Kolleg und Klubbar, Wallraf-Richartz-Museum und Literaturhaus ein großes Publikum anzog. Während es auf vielen deutschen Lyrikfestivals immer noch vorwiegend einsprachig zugeht, waren bei der "poetica" insgesamt neun verschiedene Sprachen zu hören, daneben auch immer wieder Musik und Gesang, dargeboten von jungen Schauspielern des Kölner Ensembles.

Erstaunlich war, wie unbeschwert und unprätentiös sich vor allem die angelsächsischen Teilnehmer in der Rock- und Popkultur als selbstverständlichen Lebenswelten wie zu Hause bewegten: Sjón outete sich als ehemaliger Punk und legte - wie auch der slowenische Lyriker, Romancier und diesjährige Kurator der "poetica", Aleš Šteger - ein sehr persönliches Bekenntnis zu David Bowie ab, und Paul Muldoon hob am Werk von Paul Simon hervor, dass dieser großartige Lyriker seine Songs zuerst komponiere und erst danach die zugehörigen Verse schmiede.

Der Mensch hofft auf ein Heimatland, das unter den Sohlen wächst

Passend betitelt war die gemeinsame Veranstaltung des Internationalen Kollegs "Morphomata" - das meint Gestaltwandel - und der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung mit "Blue Notes: In Sätzen leben, in Versen tanzen". Der - so sagte es Günter Blamberger, der Leiter des Kollegs, bei der Eröffnung - "Verteidigung des Blauen Dunsts" verpflichtet war nicht nur eine ganzer Katalog der blauen Dinge von Blauer Lagune bis zum Blauen Reiter, von Blaustrümpfen zu Blue Jeans, von "My Blueberry Nights" bis "Blueberry Hill" eröffnet, es wurde vielmehr auch das von Goethes "Werther" bis zu Gottfried Benn gründlich durchbläute semantische Feld von Melancholie, Sehnsucht und Nostalgie berührt. Und natürlich ging es auch um den Blues mit sämtlichen Klischees der Trauer um einen jeden Tag ("Everyday I have the Blues)" oder um jede Frau, die ihrem Mann schon wieder davongelaufen ist: "and if it wasn't for bad luck / I would not have no luck at all" - wie Paul Muldoon das grundlegende Paradox des Blues auf das zugehörige Lied brachte.

An den beiden letzten Tagen trafen die auswärtigen Teilnehmer der "poetica 2" in gemeinsamen Lesungen und Diskussionen vor großem Publikum auf Mitglieder der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, darunter Monika Rinck und Martin Mosebach, Navid Kermani und Michael Krüger, Durs Grünbein und Heinrich Detering. Die Blauen Abendstunden mit und ohne Musik boten dabei Ausschnitte aus einem weiten Spektrum sehr ernster Fragestellungen, darunter auch alte und neue Grenzen, Trauma und Traumaverarbeitung. Das Motto hatte Aleš Šteger in Form von poetischer Prosa vorgegeben: "Der Mensch ist unter dem blauen Himmel geboren. Und unter dem blauen Himmel vergeht er. Dazwischen hofft er auf ein bisschen Heimatland, das ihm unter den Sohlen wächst."

Solche Hoffnung gründet weder auf Nation noch Religion, sondern allein auf der allen Menschen gemeinsamen Erde des Blauen Planeten. An den Sohlen derjenigen, die diese Erde durchwandern, klebt freilich Sand - wie in einem von Bernardo Atxaga vorgetragenen Gedicht-, und unter den Sohlen liegen verlorene Dinge. Oder es haftet Schnee an den Sohlen, wie in den Versen von Ana Ristović: "Man höre auf die Eskimos: / um einen guten Iglu zu bauen, / muss man jahrelang Schnee in den Schuhen tragen; / und eine im Mantel vergessene / Sicherheitsnadel, nahe bei / deiner Halsschlagader."

Doch gibt es auch Hoffnung, wie beim bulgarischen Schriftsteller Giorgi Gospodinov, der als Verfasser einer "Physik der Schwermut" (2014) die Kraft des Erzählens als Schule von Empathie und Selbstironie beschwört. Und zuletzt auch noch dies: "In Gedichten", sagt Sjón, "kann es vorkommen, dass der Nebel, der sich hebt, den Berg gleich mitnimmt."

© SZ vom 02.02.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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