Neue Musik:Alles klingt

Neue Musik: Die Materialien und ihr Klang: Bei seinem Workshop bei den Darmstädter Ferienkursen war Tarek Atoui nur per Video zugeschaltet, aber die Teilnehmer konnten live ausprobieren, wie sich Filz und Murmeln anhören.

Die Materialien und ihr Klang: Bei seinem Workshop bei den Darmstädter Ferienkursen war Tarek Atoui nur per Video zugeschaltet, aber die Teilnehmer konnten live ausprobieren, wie sich Filz und Murmeln anhören.

(Foto: Kristof Lemp)

Die Darmstädter Ferienkurse, das wichtigste Treffen im Bereich zeitgenössischer Musik, zeigten trotz und wegen Corona viel Mut zu Neuem

Von Alexander Menden

Als Thomas Schäfer ein paar Tage nach Beginn der Internationalen Ferienkurse für Neue Musik in Darmstadt erfuhr, dass ein Mitglied des französischen Ensembles Linea positiv auf Corona getestet worden war, musste er sehr schnell eine Entscheidung fällen. Ursprünglich hätten die zwölf Musiker kurzfristig aus Straßburg zum Konzert anreisen sollen, sagt Schäfer. "Wir haben uns nochmal die Probenpläne angesehen, wer da mit wem zusammen war, und dann erkannt: Das ist vom Covid-Protokoll her ein glasklarer Fall." Bis kurz vor Mitternacht berieten der künstlerische Leiter der Ferienkurse und sein Team noch, wie man mit der Situation umgehen sollte. "Das Ansteckungsrisiko wäre meines Erachtens noch immer gering gewesen", erklärt Thomas Schäfer, der auch als Direktor des Darmstädter Internationalen Musikinstituts fungiert. "Aber wenn es hier deswegen einen Ausbruch gibt, dann habe ich als städtischer Kulturveranstalter ein Riesenproblem. Dann kann ich die Akademie zumachen. Deshalb war bei aller Emotionalität klar, dass wir das Konzert absagen müssen."

Derartige Ausfälle sind in diesen Tagen pandemiebedingt kaum zu vermeiden. Aber so schnell wie die Ferienkurse hätte wohl kaum ein anderes Festival vollwertigen Ersatz beschaffen können. Binnen eines Tages fanden sich neun Teilnehmer, die in der Lichtenbergschule unter dem Arbeitstitel "Carte Blanche" einen mehr als einstündigen Abend aus einstudierten und improvisierten Stücken vortrugen, darunter die Bratschen-Dozentin Geneviève Strosser mit einem Exzerpt aus der präzisen, lautmalerischen Textperformance "Machinachions" und der israelische E-Gitarrist Yaron Deutsch mit einer intrikaten Improvisation. Das Ad-hoc-Konzert war ein Beleg für die Ballung von Talenten, die sich hier in Darmstadt alle zwei Jahre zeigt.

Die 50. Ausgabe der Darmstädter Ferienkurse, des weltweit wohl wichtigsten Treffens für Musiker, Komponisten und Theoretiker zeitgenössischer Musik, das an diesem Mittwoch ausklingt, fand wegen Corona erstmals in einem ungeraden Jahr statt. Gegründet 1946 von Wolfgang Steinecke und bis 1970 jährlich veranstaltet, gelten die Ferienkurse als Gradmesser und Indikator für den Stand der Neuen Musik. Giganten der Avantgarde wie Messiaen und Cage, Stockhausen und Boulez haben sie mitgeprägt. Sie leben vom Austausch, von der Nähe Gleichgesinnter aus aller Welt.

Die Ferienkurse sind eine Kammerversion ihrer selbst, aber sie ermöglichen den Austausch von Gleichgesinnten

Ursprünglich stand das künstlerische Programm turnusgemäß bereits Anfang April 2020. Erwartet wurden im darauffolgenden Sommer, wie in den Jahren zuvor, rund 450 Teilnehmer, die sich seit Januar angemeldet hatten. "Wir waren zu Beginn der Pandemie noch etwas naiv und dachten: Vielleicht ist das nach ein paar Monaten vorbei", erinnert sich Thomas Schäfer. "Aber nach Ostern habe ich dann gemeinsam mit dem Darmstädter Oberbürgermeister Jochen Partsch entschieden, alles zu verschieben." Das bedeutete nicht, wie in vielen anderen Fällen eine komplette Verschiebung ins Virtuelle, sondern eine Verlegung in dieses Jahr, mit einer Mischung aus Präsenz- und Online-Formaten.

Was die Finanzierung anging, zeigten sich alle Förderer - die Kommune, das Land Hessen und der Bund - extrem flexibel. Obwohl Subventionsmittel normalerweise im Haushaltsjahr gebunden sind, durfte Schäfer annähernd das gesamte Budget von 1,3 Millionen Euro mit ins Jahr 2021 hinübernehmen. So konnten alle 20 Auftragskompositionen, ein Kernanliegen der Ferienkurse, wie geplant umgesetzt werden. Der Beitragssatz wurde reduziert, den Umstand reflektierend, dass die meisten Musiker seit dem ersten Lockdown keine Auftrittsmöglichkeiten oder Einkünfte gehabt hatten.

Neue Musik: Bei den Ferienkursen für Neue Musik spielt Trevor Saint experimentelle Werke von Alvin Lucier auf dem Glockenspiel.

Bei den Ferienkursen für Neue Musik spielt Trevor Saint experimentelle Werke von Alvin Lucier auf dem Glockenspiel.

(Foto: Kristof Lemp)

Dennoch ist natürlich vieles anders in diesem Jahr. Auf dem Campus vor dem während der Sommerferien zum Veranstaltungsort umfunktionierten Gymnasium Lichtenbergschule ist auch an sonnigen Tagen kein übermäßig reges Treiben zu verzeichnen. Zwei kleine Foodtrucks versorgen jene Teilnehmer, die an den Kursen in der gegenüberliegenden Akademie für Tonkunst teilnehmen. Umgangssprache ist Englisch. Nur rund 140 Musiker, Dozenten und Vortragende sind angereist, die Kompositionslehrgänge finden über Zoom statt.

Manches ist hybrid, etwa der Workshop "Table of Contents" des Tonkünstlers Tarek Atoui. Der gebürtige Libanese gibt von Paris aus über einen Videolink eine Einführung in sein Konzept des Ertastens von Klang. "Die Materialien sollten eine Chance haben, sich selbst klanglich auszudrücken", erklärt er dem halben Dutzend Teilnehmer in der Mensa der Lichtenbergschule. Auf drei Tischen ist eine ganze Reihe solcher Materialien angeordnet, mit denen die Musiker im Anschluss an Atouis Vortrag dann eigenständig dieser Idee nachspüren: eine Glasmurmel, die auf einer mit Transistorverstärkern verbundenen, metallenen Drehscheibe kratzt, Splitt auf einem Trommelfell, Filz, der an einer Zimbel gerieben wird. Eine kurze Umfrage unter den Anwesenden ergibt, dass keiner der jungen Musiker das Format weniger persönlich findet, als wenn Atoui selbst anwesend wäre.

Dass es nicht ganz so lebhaft zugeht wie sonst, sieht die junge russische Komponistin Elena Rykova nicht notwendigerweise als Nachteil. Sie war schon als Studentin in Darmstadt und sagt, es könne auch ein bisschen überwältigend sein, so viele Menschen zu sehen, wie sonst hier sind. "Es ist eine Kammerversion der normalen Ferienkurse", konstatiert sie. Rykova lebt seit sechs Jahren in Boston. Dort nutzt sie das Studio der Harvard-Universität, an der sie auf ihre Promotion hinarbeitet. Ihre Anreise nach Deutschland war kurios: "Ich hatte meine Familie in Russland seit anderthalb Jahren nicht gesehen", erzählt sie. "Ich besuchte sie bei der ersten Gelegenheit und wollte von dort nach Deutschland reisen - aber ich hätte in Quarantäne gehen müssen oder wäre vielleicht gar nicht ins Land gelassen worden. Stattdessen reiste ich in die USA, hielt mich dort zehn Tage auf und flog dann nach Deutschland. Das kürzte den Vorgang ab."

Die Anfänge von "Asymptotic Freedom", einer Neukomposition von Rykova für sechs E-Gitarren, wurden im Februar 2020 erarbeitet, kurz vor dem ersten Lockdown. "Das war ein Glück, wir hatten Zeit, uns durch Eins-zu-Eins-Sessions kennenzulernen und gemeinsam zu improvisieren." Damals dachte sie, man könnte im Sommer mit einem Konzept antreten, bei dem alle Musiker in verschiedenen Räumen sechs Solos spielen sollten. Doch als klar war, dass alles auf 2021 verschoben werden würde, änderte sich das Projekt: "Ich wollte alle gemeinsam in einem Raum sehen. Alles ist auf den Klang konzentriert, weniger von visuellen Gesten begleitet. Einfach Musiker in einem Halbkreis - back to basics."

Elena Rykova lobt die Unterstützung, die Musiker in Deutschland finden - in Russland kämpft jeder für sich allein

Als Alumna der Berliner Akademie der Künste hätte Elena Rykova sich in Deutschland um Förderung bewerben können, tat dies aber nicht, weil sie von einem anderen Stipendium profitierte. Sie hält die Unterstützung, die Musiker, auch aus der zeitgenössischen Szene, hierzulande während der Pandemie erhalten haben, für vorzüglich, vor allem im Vergleich zu den USA, wo viele Kollegen ihre Miete nicht mehr hätten bezahlen können, oder in Russland: "Dort ist ohnehin jeder auf sich selbst gestellt".

Prinzipiell ähnlich sieht es Lucas Fels, Cellist des in London beheimateten Arditti-Streichquartetts, das am Eröffnungswochenende in Darmstadt Stücke von fünf Komponistinnen spielte, darunter die erste vollständige Aufführung von Karola Obermüllers Komposition "xs". "Unsere Sparte", sagt Fels, "wird in Deutschland gut gefördert. Bundeskulturstiftung, Musikfonds, Siemensstiftung, Hochschulen - alle haben sich unglaublich ins Zeug gelegt. Das ist viel besser als vor 20, 30 Jahren, und hat sich in der Corona-Zeit bemerkbar gemacht."

Dennoch habe die Pandemie bereits eine Lücke in den Betrieb geschlagen: "Jetzt, da das Touren, gerade für britische Ensembles durch den Brexit, komplizierter geworden ist, man also dringender denn je Menschen benötigt, die sich um Akquise, Unterbringung, Transport kümmern, gehen die Agenturen kaputt - wie schon im vergangenen August Cami, eine der größten und ältesten Agenturen für klassische Musik. Keiner hat Rücklagen."

Fels stellt sich trotz der vergleichsweise komfortablen deutschen Subventionslage auf härtere Zeiten ein: Als Professor an der Frankfurter Musikhochschule empfehle er seinen Studierenden, "dafür offen zu sein, auch mal was anderes" zu machen, also einen Plan B zu haben.

Wie Elena Rykova verweist Fels als alternatives, vielleicht auch warnendes Beispiel auf die Lage der Kollegen in den Vereinigten Staaten: "Die hervorragenden amerikanischen Ensembles für Neue Musik, wie das International Contemporary Ensemble, oder Dal Niente, leben alle von der Hand in den Mund. Die machen Einzelprojekte oder eine Tour, den Rest der Zeit arbeiten sie bei Starbucks."

Langfristig sehe er in Deutschland vor allem eine Gefahr darin, dass der Mut fehle, in der Breite Neues auszuprobieren, so Lucas Fels, nach dem Motto: Das können wir uns im Moment nicht leisten, schauen wir mal, wie es in ein paar Jahren aussieht. "Und das ist das Großartige hier in Darmstadt", sagt er, "dieser Wille, immer wieder Neues auszuprobieren - sie ziehen es durch." Von jetzt an eben in ungeraden Jahren.

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