Institut für Sexualwissenschaft am Ende:"Ohne Perversion wäre die Liebe Ödnis"

Offen übers Schwulsein oder Oralsex zu sprechen? Heute kein Problem mehr - dank Volkmar Sigusch. Er und seine Frankfurter Forscher haben die Gesellschaft zu einem anderen Umgang mit ihrer Sexualität geführt. Am Samstag schließt das Institut endgültig.

Klaus Podak

Der 30. September 2006 ist ein schwarzer, ein schlimmer Tag für aufgeklärtes, aufklärendes Denken und Handeln in Deutschland. An diesem Tag wird das Institut für Sexualwissenschaft in Frankfurt, bislang angesiedelt im Klinikum der Universität, abgewickelt, geschlossen, also beseitigt.

Liebe, Sexualwissenschaft

Homosexualität ist kein Tabuthema mehr, dazu hat Volkmar Sigusch auch beigetragen.

(Foto: Foto: dpa)

Zum Anlass nehmen die Mitglieder des Fachbereichsrates Medizin ohne Gegenstimmen die Emeritierung des Direktors Professor Volkmar Sigusch, der das Institut 1973 aufgebaut hat. Das ist, so sieht es Sigusch in trauriger Verbitterung, die Beseitigung seines Lebenswerks, seines wichtigsten Teils, wird man ergänzen dürfen, denn es bleiben mehr als 30 Bücher, mehr als 500 wissenschaftliche Abhandlungen, die er bis heute geschrieben hat. Zudem ist ein Werk über die Geschichte der Sexualwissenschaft in Arbeit.

Mehr als nur bahnbrechende Aktivitäten eines Forschungsinstituts

Das Institut war aber nicht nur eine weltweit anerkannte, einzigartige Brutstätte der Theorie, Heimat einer reflektierten kritischen Sexualwissenschaft, sondern mit seiner sexualmedizinischen Ambulanz auch oft nach langer Irrfahrt letzte Zuflucht vieler leidender Menschen, denen Sigusch und seine Kollegen mit ausgefeilten Untersuchungen und Verfahren geholfen haben.

Und natürlich war das Institut als universitäre Einrichtung Aus- und Weiterbildungsstätte für Mediziner, Psychotherapeuten, Psychoanalytiker und Psychologen in Sexualtherapie. Auch das Standardwerk für die Ausbildung ("Sexuelle Störungen und ihre Behandlung") hat der Professor herausgegeben und mit neun eigenen Kapiteln versehen. Hinzu kommt, dass Sigusch sich als Gutachter und Berater, zum Beispiel bei der Strafrechtsreform, einen exzellenten Ruf erworben hat.

Alle diese Aktivitäten Siguschs und seiner Mitarbeiter, so bahnbrechend sie waren, reichen bei weitem nicht aus, die Bedeutung des nun zerschlagenen Instituts zu verstehen. Sie liegt in einer ungewöhnlichen Kombination aus Theorie und Praxis. Sigusch ist nicht nur Mediziner, sondern auch noch Professor für Spezielle Soziologie im Fachbereich Gesellschaftswissenschaften.

Sexualität als komplexes Phänomen

Er kommt aus der Schule der Kritischen Theorie Horkheimers und Adornos, die er undogmatisch der Sexualwissenschaft anverwandelt hat. Er hat eine kritische Sexualwissenschaft begründet, die über die bloße Medizin hinausgeht, den Veränderungen und Diversifikationen des sexuellen Lebens nachspürt und die vor allem zu einem beigetragen hat: der Entpathologisierung des Sexuellen und sexueller Abweichungen.

Der Direktor des Instituts für Pharmakologie und Toxikologie der Universität Heidelberg schreibt in einem der vielen Protestbriefe gegen die Abschaffung des Frankfurter Instituts, Sigusch habe die Sexualwissenschaft aus der "Schmuddelecke" herausgeholt. Und weiter: "Es ist wohl in großem Maße Herrn Sigusch zu verdanken, dass im Jahre 2005 Talkshowmaster, Künstler, aber auch hochgestellte Politiker und Regierende Bürgermeister sich zu ihrer anderen Sexualität bekennen, ohne dass die Öffentlichkeit daran Anstoß nimmt. Bis in die Soap-Opern des Fernsehens - ob man es nun richtig findet oder nicht - ist Homosexualität kein Tabuthema mehr, dazu hat Volkmar Sigusch auch beigetragen."

Im großen Wörterbuch der Brüder Grimm kommt das Wort Sexualität noch nicht vor. Schopenhauer schreibt einmal von der "Sexualität der Pflanzen", was daran erinnert, dass Sexualität etwas mit der Fort"pflanzung" zu tun hat. Wie weiträumig, wie komplex, wie wandelbar das Phänomen der Geschlechtlichkeit ist, das hat Sigusch immer wieder beschrieben, am kompaktesten in seinem Buch "Praktische Sexualmedizin" in dem Kapitel "Was heißt Sexualität?"

"Ohne Perversion wäre die Liebe Ödnis"

Dort ist zu lesen:

Liebe, Sexualwissenschaft

Das Institut hat die Rettung, die Legitimation, die Neuerfindung der Liebe unterstützt.

(Foto: Foto: photodisk)

"Als ein kulturell Isoliertes und Dramatisiertes gibt es Sexualität nur im europäisch-nordamerikanischen Gesellschaftskreis. Wir sprechen also nicht von China oder Nigeria. Doch an was denken wir, wenn wir von Sexualität sprechen? An eine biotische Sexualität mit Instinkten und Triggern oder an eine normative mit Regeln und Werten oder an eine unbewusste Sexualität mit Trieben und Ängsten oder an eine empirische mit Verhaltensweisen und Meinungen oder an eine metaphorisch-metaphysische Sexualität mit Eros und Anteros? Und was für ein Begriff ist Sexualität: ein biologischer, psychologischer, kulturwissenschaftlicher, epistemologischer?

Auf jeden Fall wird das, was wir heute Sexualität nennen, von Kultur zu Kultur und von Generation zu Generation umkodiert, neu bewertet und anders erlebt. Für Freud war das Weib kein Sexualwesen eigener Art, und den Oralverkehr hielt er für pervers. Heute wird dieser Position von vielen widersprochen. Es kommt also offenbar sehr darauf an, wer zu welcher Zeit, in welcher Ethnie, in welchem Lebensalter, mit welcher Geschlechts- und Sozialerfahrung, unter welchem Aspekt, mit welcher Intension über das Sexuelle spricht."

Übersteigerung des Normalen

In der Tat, Sexualität ist eine historisch und kulturell höchst wandelbare Größe. Die vielschichtige Einheit, als die wir sie meistens verstehen, ist eine Erfindung des späten 19. Jahrhunderts, seitdem immer wieder radikalen Brüchen ausgesetzt, immer wieder neu erfunden, immer wieder anders ausgelebt. Diese Wandelbarkeit, die von Umwertungen in der Gesellschaft begleitet wird, macht ein Institut wie das Frankfurter unentbehrlich.

Sigusch hat in vielen Arbeiten bewiesen, wie sehr sich die zerfallende und unter gesellschaftlichen Verlockungen und Zwängen wieder verändert aufbauende Sexualität allen Normierungen widersetzt, die auf Dauer gestellt sind. Veränderte Bewertungen müssen aber erst einmal erkannt, kritisch untersucht und schließlich in der Öffentlichkeit bekannt gemacht und eventuell durchgesetzt werden. So war das Institut für Sexualwissenschaft beteiligt an der Erarbeitung des Transsexuellengesetzes, das 1981 in Kraft getreten ist. Damit konnte das gesellschaftlich verordnete Leiden von Menschen, die sich dem anderen Geschlecht zugehörig fühlten, wesentlich gemildert werden.

Die Vielfalt sexuellen Geschehens drückt Sigusch schon in Titeln einiger seiner Bücher aus. Eines heißt "Sexuelle Welten", ein anderes "Neosexualitäten. Über den kulturellen Wandel von Liebe und Perversion". Sigusch prescht weit vor. Man begreift, warum die Frankfurter Mediziner das Institut abschaffen wollen. Vielleicht ist ihnen unheimlich, was von dort zu hören ist.

Im Vorwort von "Neosexualitäten" heißt es: "Am Grund der Liebe aber liegt die Perversion, ohne die die Liebe eine Ödnis wäre. Deshalb und weil durch kulturelle Transformationen immer ungewisser geworden ist, was überhaupt noch pervers sei, werden Perversionen in diesem Buch ausführlich analysiert: als unablösbarer Teil der normalen Sexualität, als Übersteigerung des Normalen, als Projektionsfeld so genannter Experten, als entpathologisierte und entmystifizierte Selbsttechnik, als künstlerische Existenzweise sowie als Delinquenz und krankhafte, behandlungsbedürftige Sexualsucht."

Nimmt man alles in allem, dann ging es bei der Arbeit des Instituts für Sexualwissenschaft neben der Minderung von Leiden vor allem um die Rettung, die Legitimation, die Neuerfindung der Liebe, von der doch keiner endgültig sagen kann, was sie in Wahrheit sei. Weil das so ist, weil das in der fragmentierten Welt gesellschaftlich notwendiger wäre denn je, hätte Siguschs Institut gerettet werden müssen. In zwei bis drei Jahren soll es eine unselbstständige Professur für reine Sexualmedizin im Zentrum für Psychiatrie geben. Die emphatische Aufklärung hat verloren. In Frankfurt wurde eine Chance vernichtet.

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