Süddeutsche Zeitung

Social Media:Der große Gleichmacher

Lesezeit: 3 min

Wie sähen soziale Medien ohne die ständige gegenseitige Bewertung per Like-Button aus? Mit dem "Demetricator" kann man es ausprobieren.

Von Michael Moorstedt

Anfang Januar ist das Jahr noch frisch und die guten Vorsätze noch solide. Einer der Dauerbrenner ist natürlich die Abstinenz, wahlweise von Alkohol, Zucker und Fett oder anderen Dingen, von denen man weiß, dass sie Körper und Geist nicht guttun. Aber da das digitale Dasein einen immer größeren Platz im Leben vieler Menschen einnimmt: Vielleicht sollte man mal darüber nachdenken, wie sich auch hier ein bisschen Verzicht üben ließe. Es würde wohl schon reichen, wenn man einem zentralen Mechanismus von Social-Media-Plattformen abschwören würde - nämlich der permanenten Quantifizierung unserer sozialen Interaktionen.

Der US-amerikanische Programmierer und Medienkünstler Ben Grosser hat für diesen Vorsatz genau das richtige Hilfsmittel: eine Browser-Erweiterung namens Twitter Demetricator. Einmal installiert, versteckt die Software sämtliche Zahlen auf der Plattform. Weder kann man sehen, wie viele Follower eine Person hat, noch wie viele Likes, Retweets oder Kommentare ein Post angehäuft hat. Menschen mit einer Hunderte Millionen starken Gefolgschaft unterscheiden sich plötzlich nicht mehr von traurigen Gestalten wie man selbst. Der Demetricator ist der große Gleichmacher. Ähnliche Programme hat Grosser auch für Facebook und Instagram veröffentlicht.

Ziel sei es, so der Medienkünstler, "zu sehen, was passiert, wenn wir uns selbst und andere nicht mehr anhand von Metriken beurteilen können. Mit dieser Arbeit möchte ich unsere Besessenheit von Social-Media-Kennzahlen durchbrechen, aufzeigen, wie sie unser Verhalten steuern, und fragen, wer am meisten von diesem System profitiert".

Seiner Ansicht nach machen die sichtbaren Messwerte die Nutzer zwanghafter, wettbewerbsorientierter und ängstlicher. Unbewusst leiten sie, glaubt er, aus den Zahlen Regeln dafür ab, was sie veröffentlichen, mit wem sie sich vernetzen und welche Beiträge sie mit den unterschiedlichen Gefällt-mir-Optionen markieren. Und es werden immer mehr solcher Metriken: Jüngst hat Twitter-Chef Elon Musk entschieden, dass unter jedem Tweet auch die Anzahl der Views angezeigt wird. Die Nutzer sind davon alles andere als angetan.

Nutzer des Demetricator wiederum berichten begeistert, dass es ihnen ein völlig neues Erlebnis biete. Sie hätten nun nicht mehr das Gefühl, Inhalte nur deshalb gut zu finden, weil das zehntausend andere auch schon tun. Oder die eigenen Posts so optimieren zu müssen, dass sie möglichst viele Likes einbringen. Diese Rückkopplungsschleifen aus antizipierten Erfolgsrezepten für hohe Zahlen - aus denen die Algorithmen der Plattformen wiederum ableiten, dass es sich offenbar um das handelt, was besonders viele Menschen interessiert - führen laut Grosser zu mehr Gleichförmigkeit. Es lohne sich, Fragen zu stellen: Beeinflusst die hohe Followerzahl eines anderen Nutzers die Wahrnehmung dessen, was er postet, oder die Entscheidung, ihm zu folgen? Ändern die "Gefällt mir"- und "Retweet"-Metriken die Einschätzung der Reaktionen auf den letzten eigenen Beitrag, prallt Kritik möglicherweise ab, wenn anscheinend so viele Nutzer einverstanden sind? Passt man den nächsten Beitrag dem an, was man aus den Zahlen abzuleiten glaubt? Hat man sogar schon mal einen Post gelöscht, weil er nicht entsprechend gut ankam?

Und schließlich: Wer profitiert eigentlich von einem System, das uns alle ständig dazu ermutigt, uns zu bewerten und zu vergleichen? Zum Beispiel die Macher von Desinformationskampagnen, die mit automatisierten Bots die Metriken ihrer Posts hochtreiben, um ihnen den Anschein von Relevanz und Seriosität zu verleihen.

Was, wenn man nur 100 Posts hätte, und dann ist Schluss?

Eine andere Erfindung von Grosser ist ein soziales Netzwerk namens Minus. Auch dort herrscht die Prämisse des Verzichts. Jeder Nutzer bekommt bei seiner Anmeldung ein Kontingent von 100 Posts. Und jedes Mal, wenn man ein Bild oder eine Meinung hochlädt, sinkt diese Zahl. Bis sie schließlich bei null ankommt - und man für immer stumm bleiben muss.

Die künstliche Verknappung ist freilich weniger eine ernstzunehmende Konkurrenz für die großen Netzwerke als ein Gedankenexperiment, ein kleines Korrektiv für unsere datengetriebene Welt: Wie könnte sich die Online-Kommunikation verändern, wenn wir Qualität anstatt Quantität als Maßstab ansetzen würden und wir anfingen, unsere Zeit und unsere Aufmerksamkeit als die begrenzten, kostbaren Ressourcen zu betrachten, die sie wirklich sind? Was würde eigentlich noch online stehen, wenn die Menschen sich Gedanken darüber machen müssten, welche Meinung es wert ist, überhaupt zu erscheinen?

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