Innovative Kamerakonzepte im Kino:Süchtig nach Kontrollverlust

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Gravity Kino

George Clooney und Sandra Bullock in "Gravity" im All.

(Foto: Bloomberg)

Von Helmkameras für Extremsportler bis zu Kontaktlinsen mit Aufnahme-Funktion - die Bilder der Zukunft lösen sich von der Kontrolle durch Bildgestalter, sie werden autonom. Selbst Hollywood flirtet schon mit dem neuen Extremismus des Schauens.

Von Philipp Stadelmaier

In einem der besten Filme des letzten Jahres, dem auf einen Hochseefischerboot gedrehten "Leviathan", hatte man es mit Bildern zu tun, die sich nicht mehr binden ließen. Die beiden Regisseure, Lucien Castaing-Taylor und Véréna Paravel, setzten viele kleine, in wasserdichte Hüllen eingeschlagene Kameras ein - um sie dann von Bord zu werfen und in Netzen durch die Fahrtgischt gurgeln zu lassen, um sie an Masten hochzuziehen und durch glitschig-blutige Fischtanks rutschen zu lassen.

Fernab irgendeiner inszenatorischen Idee oder auch nur der geringsten Führung, ganz den Elementen und dem Zufall anheimgegeben, waren sie es, die den Film machten. Nicht die Regisseure, allein die wie Netze ausgeworfenen Kameras durchkämmten das Dunkel der Nacht und des Ozeans - wie der Leviathan, das mythische Seewesen in der Bibel. Um dann Bilder wie Fischschwärme an die Oberfläche zu ziehen: ein archaischer Strom aus Meergischt, blutigem Fischgekräuse, Ketten und Möwenflügeln.

Das Bildermonster, das da geschaffen wurde, scheint aber noch weit über diesen Film hinaus zu wirken- gerade jetzt, da Google seine Glass-Brille wirklich auf den Markt bringt und sogar schon eine digitale Kontaktlinse mit Mikrokamera zum Patent angemeldet hat. Kameras werden heute weniger geführt als getragen, ob nun vom Meer oder von Menschen, und ihre neue Autonomie bestätigt die alte These von Stanley Cavell aus den Sechzigern, dass Kino sich durch seinen automatischen Charakter auszeichne.

Im Hollywoodkino kann man schon länger beobachten, dass die virtuelle Kamera in der Computeranimation die Restriktion der Inszenierung durch physische Gesetze weitestgehend abgeschafft hat. Aber dass die Bildmaschinen ganz ihrem eigenen Gesetz überlassen werden, das erscheint in einer Industrie, die aufs geradlinige Erzählen gepolt ist, dann doch zu experimentell. Ansätze dazu aber gibt es:

Im Spektakel des zweiten "Hobbits" war die beste Szene schon jene, in der die Kamera in einer ungeschnittenen, akrobatischen Fahrt einen tosenden Wildwasserbach herunterraste und sich dabei mit den darauf tanzenden Holzfässern drehte. Und vielleicht wäre "Captain Philips" ein nur halb so packender Film, hätte Paul Greengrass seine Kamera auf hoher See nicht von den kurzen, hektischen Wellenschlägen auf- und niederreißen lassen, die das Rettungsboot hinterlässt, auf dem somalische Piraten Tom Hanks entführen.

Der Hollywoodfilm, der "Leviathan" zuletzt am nächsten kam, war "Gravity". Einmal angestoßen, scheint hier die Kamera nur noch ihrer eigenen Trägheit zu folgen, wenn sie schwerelos durchs Weltall gleitet, satellitengleich mit Sandra Bullock ewig im Erdorbit kreist. Als würde niemand sie mehr führen. Und als würde sie genau dadurch diesen Bereich umreißen, dem die Astronautin Bullock hilflos ausgeliefert ist, diese kalte, absolut lebensfeindliche Sphäre des Orbits, in der man sich ewig weiterdrehen kann, die einen nicht mehr gehen lässt.

Im Spin durchs All

In keinem Moment wird das so deutlich wie da, wo die Kamera Bullocks Helm fixiert, als sie nach dem Unfall am Space Shuttle im unkontrollierten Spin durchs All geschleudert wird. Im Spiegel des Visiers sieht man, wie sich das ganze Universum und die Erde um sie dreht. Und ihre Angst, aus dieser Bewegung niemals wieder austreten zu können. Die Kamera nimmt da ihre Subjektive ein - und fügt ihr etwas hinzu, was über sie hinausgeht und sie überleben wird.

Die autonome Kamera, das ist ein körperloses Auge, das sich wie eine unendlich dünne Membran mit dem Blick jedes organischen Lebens vermischen kann, aber unabhängig von ihm bleibt; der Blick einer monströsen, unbedingt tödlichen und selbst unzerstörbaren Natur, der unsterbliche Blick des Todes selbst. So imitiert die Kamera in "Leviathan" den Blick eines toten, aber noch immer wie vor unendlicher Verblüffung glotzenden Fisches, auf den sie in einem der Tanks immer wieder zurutscht, um dann wieder fortgezogen zu werden.

Die Kamera überlebt jeden, dessen Blick sie annehmen oder der sie sonst wie steuern oder an sich binden kann. Ganz explizit wird das in Filmen wie "Cloverfield", "Rec" oder "Diary of the Dead": Horror und Katastrophen werden hier als Montagen scheinbar zufällig entstandener Amateur- oder Newsaufnahmen gezeigt. Die Kameras laufen weiter, während die Protagonisten der Reihe nach sterben, am Ende sind sie ( und ihre Bilder) die einzigen Zeugen und Überlebenden.

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