Bachmannpreis für Ana Marwan:Eine verwunschene Trophäe

Bachmannpreis für Ana Marwan: Ana Marwan ist 1980 in Murska Sobota in Slowenien geboren. 2019 erschien ihr erster Roman "Der Kreis des Weberknechts" im Otto-Müller-Verlag. Den zweiten Roman "Zabubljena" gibt es bisher nur auf Slowenisch.

Ana Marwan ist 1980 in Murska Sobota in Slowenien geboren. 2019 erschien ihr erster Roman "Der Kreis des Weberknechts" im Otto-Müller-Verlag. Den zweiten Roman "Zabubljena" gibt es bisher nur auf Slowenisch.

(Foto: Harald Schneider/APA/picture alliance)

Beim Wettbewerb in Klagenfurt feiert die Jury eine Entdeckung: Die bisher kaum bekannte Schriftstellerin Ana Marwan gewinnt den Ingeborg-Bachmann-Preis. Vor allem aber stehen die Kritiker selbst in diesem Jahr unter scharfer Beobachtung.

Von Miryam Schellbach

Die ulkige Wechselkröte mit ihren grünen Punkten ist der Lurch des Jahres 2022. Als die slowenische Schriftstellerin Ana Marwan vor wenigen Tagen ein Exemplar dieser Art vor ihrer Haustür in Niederösterreich sitzen sah, hätte sie ahnen können, dass in Klagenfurt Großes auf sie wartet. Sie las dort im Wettbewerb ihren Text "Wechselkröte", den Bewusstseinsstrom einer Frau, in deren Einsamkeit das Publikum wohl Motive der vergangenen beiden Pandemiejahre wiedererkennen konnte. Damit hat sie den mit 25 000 Euro dotierten Ingeborg-Bachmann-Preis gewonnen. Ana Marwan, so begründete Juror Klaus Kastberger,"lässt sich vom Deutschen treiben und treibt die deutsche Sprache vor sich her". Den Lurch, so Kastberger, nutzt sie als gelungenes Kippbild zwischen Heimat und Horror, Bleiben und Gehen, Kinderlosigkeit und Mutterschaft.

Kommt im Märchen eine Kröte um die Ecke, springt das Unvorhergesehene mit ins Bild. Und Klagenfurt, mit seinen Hinterhofschlemmereien, dem Schlagobers und den Kasnudeln, hat ohnehin einmal im Jahr Märchencharakter, wenn der ganze Literaturbetrieb zum Klassentreffen zusammenkommt. Der König (Bürgermeister) öffnet das Schloss (Maria Loretto am Wörthersee), die Guten (Autorinnen und Autoren) fürchten die Bösen (die Jury, Journalisten), und Schicksale werden besiegelt. Dieses Jahr aber war vieles anders, die Jury schien gezähmt zu sein, bitterböse Verrisse gab es kaum, und ein Autor und ein Journalist wurden in friedlicher Eintracht beim Nachtbaden gesehen. Woher kam die gute Stimmung?

Bachmannpreis für Ana Marwan: Die Wechselkröte war nicht nur Lurch des Jahres, sondern auch Sinnbild und Glückstier des Wettbewerbs um den Ingeborg-Bachmann-Preis 2022.

Die Wechselkröte war nicht nur Lurch des Jahres, sondern auch Sinnbild und Glückstier des Wettbewerbs um den Ingeborg-Bachmann-Preis 2022.

(Foto: imago stock&people)

Der Bachmannpreis wurde infiltriert. Am Rand des wichtigsten Wettbewerbs für die deutschsprachige Gegenwartsliteratur stand eine Gruppe junger Wissenschaftler in ordentlichen Hemden herum, zu Forschungszwecken, wie sie sagten, um den Stand der Literaturkritik zu vermessen. Während des Wettbewerbs, in den Pausen und an den Nachmittagen befragten diese Wissenschaftler die angereisten Journalisten und die Jury: Was sind die Grundlagen eines Urteils, welche Themen fehlen, welche sind zu viel? Weil es möglicherweise zum Wesen des Kritikers gehört, dass er ein stattliches Sendungsbewusstsein hat und sich gern reden hört, hatten diese Forscher einiges zu notieren. Sie schrieben ihre Blöcke voll. Woraufhin auch in den Jurydiskussionen unverhofft Grundsatzfragen über Originalität aufschimmerten.

Unter den Feldforschern war der Doppelagent Juan S. Guse. Der ist nicht nur Soziologe, sondern eben Autor und erst im Moment seines Auftritts, er las als Vorletzter, wurde manchem klar, dass auch das Geschehen am Rand eines solchen Wettbewerbs zur Inszenierung werden kann, dass hier also mehr zum Text gehörte als erwartet. Denn während die Jury diskutierte, und sich von Guses Text einstimmig begeistert zeigte, wirkte der abwesend. Er stenografierte in seinen Notizblock. Der Beobachtete wurde zum Beobachter. "Wir sind es selbst, auf die hier geschaut wird", kommentierte Kastberger.

Bachmannpreis für Ana Marwan: Als Forscher und Wettbewerber angereist: Juan S. Guse.

Als Forscher und Wettbewerber angereist: Juan S. Guse.

(Foto: Gert Eggenberger/dpa)

"Im Falle des Druckabfalls" heißt der im Wettbewerb mit dem Kelag-Preis ausgezeichnete Beitrag Juan Guses, eine nüchtern erzählte Geschichte über eine UN-Mitarbeiterin in einer ins Dystopische gekippten Gegenwart, die zur Erforschung einer unbekannten Menschengruppe in den Taunus geschickt wird und sich auf der ethnografischen Expedition mit Kollegen über ihre Kriterien der Beobachtung des Unbekannten verständigt. Im wilden Hessen stößt sie auf die Anhänger eines Cargo-Kultus, einer Quasireligion der Erwartung und der Simulation.

Nur zerfließt in Guses Beschreibung allmählich die Grenze zwischen Simulanten und Beobachtern. Sind es die Ethnografen, deren Methodik vom Zweck entfesselt wurde? In der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung hat Guse einmal über das Problem geschrieben, dass in große Organisationen mitunter Mechanismen der Selbstbestätigung eingebaut sind, etwa unendlich aufeinander verweisende Paragrafen in ihren Statuten: "Im Falle der Vereinten Nationen liegt die Gefahr aber in der Zweck-Mittel-Verkehrung, die dazu führen kann, dass der Jargon und seine Sprachkodizes nicht mehr hinterfragt werden", hieß es da. Sozialen Ritualen, wozu in soziologischem Verständnis das Klagenfurter Wettlesen gehört, droht eine ähnliche Gefahr.

Bachmannpreis für Ana Marwan: Immer in Gefahr der Selbstbezüglichkeit: Zur Jury gehörten 2022 von links nach rechts Klaus Kastberger, Mara Delius, Brigitte Schwens-Harrant, Jurysprecherin Insa Wilke, Michael Wiederstein, Vea Kaiser und Philipp Tingler.

Immer in Gefahr der Selbstbezüglichkeit: Zur Jury gehörten 2022 von links nach rechts Klaus Kastberger, Mara Delius, Brigitte Schwens-Harrant, Jurysprecherin Insa Wilke, Michael Wiederstein, Vea Kaiser und Philipp Tingler.

(Foto: Gert Eggenberger/dpa)

Die Verleihung des Bachmannpreises ist das wichtigste Literaturevent im deutschsprachigen Raum. Mehr als 1000 Minuten Text und Kritik schickt 3sat jährlich auf die Heimbildschirme. So viel ungewohnte Aufmerksamkeit heizt die Arena auf. Die Klagenfurt-Jury ist dafür bekannt, auch vor gnadenlosen Verrissen nicht haltzumachen. Es haben sich Kritikerprofile eingeschliffen, von denen dieses Jahr freudig Gebrauch gemacht wurde. Klaus Kastberger ist der schmissige Spaß-Kritiker, Mara Delius die analytische, Insa Wilke die kontextualisierende Stimme. Philipp Tingler bleibt der Literaturprügelknabe mit Hang zur Kontrastdramaturgie.

Daneben gibt es das Metamanöver der Kritik der Kritik. Die erledigen unter anderem auf Twitter die Besserversteher, die zählen, wie häufig die Jury sich hinter schwierigen Worten versteckt ("Transzendenz") und genauso engagiert über die Fashionlabel der Jury fachsimpeln. Klagenfurt ist der Eurovision Song Contest der Literatur, und manchmal ist das beim Zusehen und Mitlesen unangenehm.

Viel schlimmer aber war es in den vergangenen Jahren, als die Jury manchmal so stark durcheinanderredete, dass keiner zu verstehen war und die beiden großen I-s, Identifikation und Interpretation, im Tumult verwechselt wurden. Philipp Tinglers Tiraden waren in diesem Jahr zwar noch zu hören, nur balancierten die Kollegen eleganter drumherum. Auch am ewig antagonistischen Verhältnis zwischen Jury und Autoren wurde gekratzt. Die Kandidatin Mara Genschel etwa, die mit aufgeklebtem Bart und Yankee-Akzent gelesen hatte, intervenierte, als sich in der Jury die Vermutung einschlich, dies sei eine Performance: "Ich habe mich doch nur schick gemacht."

Bachmannpreis für Ana Marwan: Vier Preise werden in Klagenfurt neben dem Ingeborg-Bachmann-Preis verliehen. Die Gewinner 2022 waren Juan S. Guse, Alexandru Bulucz, Ana Marwan, Elias Hirschl und Leon Engler.

Vier Preise werden in Klagenfurt neben dem Ingeborg-Bachmann-Preis verliehen. Die Gewinner 2022 waren Juan S. Guse, Alexandru Bulucz, Ana Marwan, Elias Hirschl und Leon Engler.

(Foto: Gert Eggenberger/dpa)

Neben Leon Engler (3sat-Preis) und Elias Hirschl (Publikumspreis) wurde der Autor Alexandru Bulucz ausgezeichnet. Bisher eher für seine Lyrik bekannt, las er mit "Einige Landesgrenzen weiter östlich, von hier aus gesehen" einen assoziativ gebauten Erinnerungstext über eine Kindheit im Osten Europas. Bis zum letzten Tag galt sein formal anspruchsvoller Beitrag als preisverdächtigster. Als er den mit 12 500 Euro dotierten Deutschlandfunk-Preis entgegennahm, sagte er sichtlich verwundert, alle seine Vorurteile gegenüber der Jury hätten sich in den vergangenen drei Tagen in Luft aufgelöst.

Wenn es nicht die Wechselkröte war, dann sind der allgemeine Stimmungswechsel und die Zähmung der Jury auch ein wenig der Invasion der Ethnografen zu verdanken. Supervision ist ein bewährtes Verfahren, auch wenn sie ohne Einladung erfolgt.

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