Nachruf Inge Jens:"Ordensskeptische Hanseatin"

Nachruf Inge Jens: Die Literaturwissenschaftlerin und Schriftstellerin Inge Jens (1927 bis 2021) war auch eine engagierte Pazifistin.

Die Literaturwissenschaftlerin und Schriftstellerin Inge Jens (1927 bis 2021) war auch eine engagierte Pazifistin.

(Foto: Silas Stein/picture alliance / Silas Stein/d)

Die Literaturwissenschaftlerin und Autorin Inge Jens ist tot. Ihre Edition der Tagebücher von Thomas Mann setzte Maßstäbe, sie selbst blieb bescheiden.

Von Uwe Naumann

"Wenn ich auf mein Leben zurückschaue, habe ich Anlass zu großer Dankbarkeit", hat Inge Jens schon 2008 in einem Interview gesagt. Jetzt ist sie, wenige Wochen vor ihrem 95. Geburtstag, in Tübingen gestorben.

Sie wurde am 11. Februar 1927 in Hamburg als Inge Puttfarcken geboren. Ursprünglich wollte sie Ärztin werden, bekam aber keine Zulassung zum Medizinstudium. So wechselte sie 1949 nach Tübingen und begann ein Studium der Literaturwissenschaft. Dort lernte sie Walter Jens kennen, den sie 1951 heiratete - mit Ernst Rowohlt als geistigem Trauzeugen. Der berühmte Verleger half ihr mit zahlreichen Büchern "seiner" Autoren aus bei der Arbeit an ihrer Doktorarbeit über die expressionistische Novelle.

Der Autor

Uwe Naumann ist Buchautor und Lektor und Herausgeber im Rowholt-Verlag.

Schon wenige Jahre später begann sie selber, Spuren zu hinterlassen in der Kulturgeschichte. Zunächst als Editorin: mit Büchern über die Weiße Rose, über Max Kommerell und Ralph Benatzky lieferte sie wichtige Bausteine zur Erinnerungskultur der Deutschen. Und ihre Edition der zweiten Hälfte der Tagebücher von Thomas Mann setzte Maßstäbe für ganze Generationen von Germanisten.

Die Lesungen, die sie mit Walter Jens veranstaltete, begeisterten ihre Zuhörer

Aber sie verstand sich nicht in erster Linie als Autorin, denn sie schätzte ihre eigenen erzählerischen Fähigkeiten eher gering. Sie sah sich als Herausgeberin, immer auf der Suche nach interessanten Dokumenten. Unbekannte Briefe und Tagebücher waren es denn auch, die sie zur Bestsellerautorin machten: Das Buch "Frau Thomas Mann", das sie 2003 gemeinsam mit ihrem Mann Walter veröffentlichte, enthielt zahlreiche neue Quellen und wurde ein sensationeller Erfolg. Auch die Biografie "Katias Mutter" (2005) über das Leben von Hedwig Pringsheim fand starke Beachtung, weil sie ein Kapitel der großen, untergegangenen jüdischen Kultur in Deutschland festhielt. Bei Rowohlt fand sie mit diesen Büchern eine verlegerische Heimat, der sie bis zum Schluss treu blieb. Mehr als zwanzig Jahre durfte ich sie als Lektor und Gesprächspartner begleiten.

Inge Jens liebte es, ihre Forschungsergebnisse öffentlich zu präsentieren. Die zahlreichen Lesungen, die sie jahrelang mit Walter Jens veranstaltete, fanden stets in vollen Sälen vor begeistertem Publikum statt. Dabei war sie selber ein bescheidener Mensch. Als ihr 1996 das Land Baden-Württemberg eine Art Ehrenprofessur verleihen wollte, lehnte sie ab mit der Begründung, sie sei eine "ordensskeptische Hanseatin" und könne auf solche Lorbeeren getrost verzichten.

Im Golfkrieg versteckte das Ehepaar desertierte US-Soldaten

Ihre offene, unprätentiöse Art hat ihr viele Sympathien eingetragen. Sie war politisch hellwach und unerschrocken. In den Achtzigerjahren wurde sie zu einer prominenten Repräsentantin der Friedensbewegung. Sie beteiligte sich 1984 an Sitzblockaden vor dem Atomwaffendepot in Mutlangen. Als sie wegen dieser Proteste vor Gericht gestellt wurde, verteidigte sich Inge Jens mit dem Hinweis auf ihre eigenen Erfahrungen im Zweiten Weltkrieg: Wer dieses Inferno als junger Mensch erlebt habe, müsse sich zum Pazifismus bekennen. 1990 versteckte das Ehepaar Jens während des Golfkriegs zwei desertierte US-Soldaten für längere Zeit in seinem Haus.

Als Walter Jens im Alter zunehmend an Demenz erkrankte, hat seine Frau ihn aufopfernd gepflegt. Zugleich hat sie sein Schicksal ein Stück weit öffentlich gemacht, was ihre manche Anfeindungen einbrachte. Aber sie wollte andere Menschen ermutigen, sich mit dieser verbreiteten, aber von den Angehörigen oft versteckten Krankheit ehrlich auseinanderzusetzen. Ihre Bücher "Unvollständige Erinnerungen" (2009) und "Langsames Entschwinden" (2016) legen Zeugnis ab von diesem schwierigen Weg.

Nachdem Walter Jens 2013 gestorben war, verkaufte Inge Jens das gemeinsame Haus im Tübinger "Professorenviertel" und zog in eine innenstadtnahe Wohnung in einem Stift. Dort verbrachte sie die letzten Jahre weitgehend zurückgezogen. Als ich sie das letzte Mal im Oktober besuchte, lebte sie auf beim Erzählen über gemeinsame Projekte und Lesereisen. Nun ist sie nach Auskunft ihres Sohnes Christoph am 23. Dezember "ganz friedlich eingeschlafen".

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