Indische Literatur:Die Erbsünde namens Hoffnung

Aravind Adigas Roman "Golden Boy" handelt von Aufstiegsträumen, die an den Nationalsport Cricket anknüpfen - in Indien die zweite Religion neben dem Bollywood-Kino.

Von Alex Rühle

Die neue Zeitrechnung Indiens begann im Jahr 1992: Damals öffnete sich das Land für den Weltmarkt, gleichzeitig wurde der Binnenmarkt dereguliert. Durch diese Liberalisierung haben sich Städte wie Bangalore, Chennai und allen voran die Wirtschaftsmetropole Mumbai radikaler verändert als in den hundert Jahren davor. Quasi über Nacht wurden sie zu gigantischen Umwälzpumpen, und heute wuchern neben Dharavi, dem am dichtesten besiedelten Slum der Welt, Wolkenkratzer in die Höhe, leben mehr Millionäre in Mumbai als in Manhattan, und jeden Tag pressen sich aus dem indischen Hinterland weitere 1000 Menschen auf diese Halbinsel, die nicht expandieren kann.

Seltsamerweise haben sich aber nur wenige indische Autoren der Beschreibung dieses dramatischen Wandels verschrieben. Aravind Adiga landete auch deshalb 2008 einen solchen Erfolg mit "Der Weiße Tiger", weil er ein literarisches Vakuum füllte. Sein Debütroman erzählte die Geschichte von Balram Halwai, einem Selfmade-Unternehmer, der aus einem bettelarmen Dorf kam, Chauffeur einer einflussreichen Familie in Mumbai wurde und sich nun seinen eigenen Reim auf den indischen Turbokapitalismus macht. Durch diesen durchtriebenen Erzähler wurde "Der Weiße Tiger" zur indischen Version eines Schelmenromans, in dem ja immer ein scheinbar naiver Erzähler die Welt beschreibt. Vordergründig versteht er sie nicht, tatsächlich demaskiert er sie gerade durch seinen naiven Blick auf die sogenannte Demokratie, die hier nur eine gigantische Bestechungsmaschinerie ist. Auf den glitzernden Boom und dessen völlig morastigen Untergrund. Auf Kleidersitten und Bollywood, Kastenwesen und Aberglauben. Kurzum: auf den ganzen indischen Wahnsinn.

Sechs Jahre später folgt man in "Golden Boy", Adigas drittem Roman, wiederum einem Jungen aus einfachsten dörflichen Verhältnissen in die Stadt, diesmal in die zivilisatorische Überdruckkammer namens Mumbai: Manju Kumar wurde als Baby mit seinem Bruder Radha hierher gebracht, weil die beiden zu Cricketstars werden sollen. Entschieden hat das ihr Vater, der sportbesessene und vor Ehrgeiz halb wahnsinnige Mohan, der sein weniges Geld als Chutneyverkäufer verdient, aber sein ganzes Leben nur dem Zweck verschrieben hat, seine Söhne zu trainieren, um sie berühmt und reich zu machen. Was dann folgt, könnte man mit einem Bonmot von Adigas Kollegen, dem Autor Kiran Nagarkar, der ebenfalls in Mumbai lebt, zusammenfassen: Wenn es in dieser verkommenen Stadt so was wie die Erbsünde gebe, dann sei das die Hoffnung. . .

Indische Literatur: First Folio: Sechs Jahre nach dem Tod William Shakespeares wird die erste Gesamtausgabe seiner Werke im Folio-Buchformat mit einer Buchrückenhöhe von circa 40 Zentimetern auf der Frankfurter Buchmesse präsentiert. Das Interesse ist gering: Wer kann schon Englisch, wer interessiert sich für Theaterstücke - und wer, zur Hölle, ist überhaupt William Shakespeare? Von der sogenannten First Folio wurden etwa 750 Exemplare gedruckt. Der Preis für ein ungebundenes Exemplar betrug 15 Schilling, für die gebundene Ausgabe ein Pfund - das Hundertfache dessen, was zu Shakespeares Lebzeiten der Eintritt für eine Vorstellung in seinem Theater kostete. Es existieren heute noch 234 Exemplare der First Folio. 2006 wurde eine Ausgabe mit originalem Einband aus dem 16. Jahrhundert bei Sotheby's für rund 5,2 Millionen Dollar versteigert.

First Folio: Sechs Jahre nach dem Tod William Shakespeares wird die erste Gesamtausgabe seiner Werke im Folio-Buchformat mit einer Buchrückenhöhe von circa 40 Zentimetern auf der Frankfurter Buchmesse präsentiert. Das Interesse ist gering: Wer kann schon Englisch, wer interessiert sich für Theaterstücke - und wer, zur Hölle, ist überhaupt William Shakespeare? Von der sogenannten First Folio wurden etwa 750 Exemplare gedruckt. Der Preis für ein ungebundenes Exemplar betrug 15 Schilling, für die gebundene Ausgabe ein Pfund - das Hundertfache dessen, was zu Shakespeares Lebzeiten der Eintritt für eine Vorstellung in seinem Theater kostete. Es existieren heute noch 234 Exemplare der First Folio. 2006 wurde eine Ausgabe mit originalem Einband aus dem 16. Jahrhundert bei Sotheby's für rund 5,2 Millionen Dollar versteigert.

Wieder also eine Geschichte um Aufstiegsträume und die Jagd nach dem quecksilbrigen Glück, den Clash of Hopes, die krassen sozialen Gegensätze, diesmal anhand von Cricket, jener seltsamen Sportart, über die der Schauspieler Robin Williams mal spottete, das sei ja wohl Baseball auf Valium. Woran man nur sieht, dass Williams kein Inder war. Aravind Adiga definiert im angehängten Glossar sein riesiges Heimatland, in dem über 1,2 Milliarden Menschen leben und über 100 Sprachen gesprochen werden, in zwei Zeilen: "Indien - ein Land, das eigentlich nur zwei Religionen kennt: Kino und Cricket".

Nach dem Willen des Vaters soll der ältere Radha der Star werden. Manju aber ist der begabtere Spieler. Das bringt das fragile Familienmobile schnell in eine gefährliche Schieflage. Noch gefährlicher aber ist für das väterliche Karriereprojekt, dass Manju andere Dinge mindestens genauso interessant findet wie Cricket: Alleinsein. Naturwissenschaften. Und vor allem diesen einen Jungen, Javed Ansari, der so anders wirkt als die anderen, ein gut aussehender Moslem, der das ganze Hochleistungstraining für völligen Unsinn hält, der den Mut hat auszusteigen und Manju überreden will, mit ihm mitzukommen.

Außerdem stellt Adiga noch zwei Männer an den Spielfeldrand seiner Geschichte, den Talentscout und Journalisten Tommy Sir, der mit seinen theoretischen Ausführungen Cricket zur Zivilisations- und Lebensmetapher überhöht. Und Anand Mehta, eine Art Impresario seiner selbst, ein zynischer Manager, der den sozialkritischen Aspekt am Cricketthema personifiziert: Das indische Cricket wurde seit Anfang der Neunzigerjahre immer wieder von riesigen Bestechungsskandalen erschüttert, das Ganze ist natürlich ein milliardenschweres Geschäft, in dem mit allerhärtesten Bandagen gekämpft wird.

Indische Literatur: Aravind Adiga: Golden Boy. Roman. Aus dem Englischen von Claudia Wenner. Verlag C. H. Beck, München 2016. 335 Seiten, 21,95 Euro. E-Book 17,99 Euro.

Aravind Adiga: Golden Boy. Roman. Aus dem Englischen von Claudia Wenner. Verlag C. H. Beck, München 2016. 335 Seiten, 21,95 Euro. E-Book 17,99 Euro.

Als Adiga für "Der Weiße Tiger" 2008 den Man Booker Prize bekam, sagte er, Aufgabe des Romanautors sei es, "die brutalen Ungerechtigkeiten der Gesellschaft auszustellen. Das ist es, was Flaubert, Balzac und Dickens im 19. Jahrhundert gemacht haben, und deshalb sind Frankreich und England heute bessere Gesellschaften." Die kausale Verbindung der beiden Satzteile zeugt von einem beeindruckenden Glauben an die Kraft der Literatur.

Es wäre spannender gewesen, die Geschichte nicht vom Spielfeldrand aus zu erzählen

Man könnte boshaft entgegnen: Na, dann müssen die Bücher aber auch so gut sein wie die von Flaubert, Balzac und Dickens. "Der Weiße Tiger" war ein literarischer Geniestreich. Ohne zu belehren, ohne je in journalistische Exkurse zu verfallen, beschrieb Adiga ganz aus dem engen, verzerrten Blickwinkel seines kleinen Helden, wie in Indien die Schere zwischen Reich und Arm so weit aufgegangen ist, dass man meinen könnte, Reiche und Arme gehörten mittlerweile verschiedenen Gattungen an. Leider gelingt ihm Ähnliches in "Golden Boy" nicht noch einmal.

Zum einen soll eine Sportart als Spannungsmotor dienen, die den meisten Lesern außerhalb des Commonwealth vielleicht nicht wie Valium vorkommt, die ihnen aber schlicht unbekannt ist, weshalb man - zumindest als ignoranter deutscher Rezensent - weder die Schönheit des Spiels noch die technischen Finessen oder eben den beglückenden Thrill nachempfinden kann, den ein perfekter Schlag bei eingefleischten Fans auslösen kann. Stattdessen steht man zwischen Wicket, Pitch und dem ganzen restlichen Fachvokabular wie in einer unaufgeräumten Umkleidekabine und weiß nicht, was wohin gehört.

Leseprobe

Einen Auszug aus dem Roman stellt der Verlag hier zur Verfügung.

Dazu kommt, dass dem Buch der eigene Sound fehlt. Statt eine seiner Figuren zum Erzähler zu machen, gibt es hier einen zwar ironisch federnden, klug kommentierenden, souveränen, aber genau deshalb auch immer wieder recht blassen auktorialen Welterklärer. Wie spannend wäre es wohl gewesen, das Ganze aus der Warte einer seiner Figuren zu erzählen, etwa der des verqueren Familiendespoten, dessen Trainings- und Ernährungsplan ähnlich wahllos zusammengewürfelt sind wie die Abfallhütten in seinem Slum, kaum schnappt er irgendwo etwas auf, integriert er es in sein System: Auf keinen Fall vor dem 21. Geburtstag rasieren, Rasierklingen bringen die Hormone in Aufruhr!

Noch viel spannender aber wäre es gewesen, wenn Adiga den untergründig schwelenden Konflikt dieses Buches, die homoerotische Neigung seines jungen Helden, klarer thematisiert hätte. Natürlich rührt er damit an ein gefährliches Tabu, bis heute steht Homosexualität in Indien unter Strafe, ja das Thema wird im Alltag dermaßen konsequent ausgeblendet, dass Manju lange gar nicht versteht, was mit ihm los ist. Gerade dieser Handlungsstrang wäre in sich schon so spannend, dass er einen durch den ganzen Roman tragen könnte, aber dann ist ja schon wieder Training und Spiel und Sieg oder vielleicht doch eher Niederlage.

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