Süddeutsche Zeitung

Serie "Welt im Fieber": Indien:Er sah, was andere nicht sehen wollten

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Schon lange vor dem Corona-Lockdown sah der bengalische Schriftsteller Subimal Misra auf die toxische Realität in Indien. Für unseren Autor ist es gerade die beste Zeit, ihn wieder zu lesen.

Gastbeitrag von Venkataraman Ramaswamy

Als der Lockdown im März begann, fühlte ich mich schuldig, nicht "produktiv" zu sein. Also habe ich mich Hals über Kopf in die Übersetzung einer "Anti-Geschichte" von Subimal Misra gestürzt. Aber fragen Sie mich nichts zu dieser Geschichte - Pardon, Anti-Geschichte -, denn ich bin nur der Übersetzer (ins Englische)! So nahe an einem Text dran und ganz auf ihn und die spezifische Sprache eines Autors fokussiert zu sein, bringt mich, ehrlich gesagt, weg von jedem literarischen Aspekt. Als Übersetzer beruht mein Verhältnis zum Werk von Subimal Misra, dem zurückgezogenen bengalischen Anti-Establishment-Schriftsteller, Jahrgang 1943 - ein Schriftsteller für Schriftsteller -, auf der Sprache, nicht auf der Literatur.

Wie jemand mit Misras Hintergrund zum Kosmopoliten wurde, bleibt ein Rätsel

Ich habe keinen Bezug zur bengalischen Literatur. Eher habe ich ein Verhältnis zur bengalischen Sprache, die ich hauptsächlich dem Gehör nach gelernt habe (und noch immer lerne). Ich wurde in einer tamilischen Familie in Kalkutta geboren, und in einem osmotischen Prozess (der andauert) begann ich, die bengalische Sprache, Gesellschaft und Kultur zu umarmen und mich mit ihr zu identifizieren. Ich kann gar nicht anders, als ein "Außenseiter" zu sein. Ich bin immer und implizit ein Beobachter.

Die toxische Realität meines Landes ist jetzt während des coronabedingten Lockdowns an die Oberfläche gekommen. Aber schon lange davor hatte Subimal Misra mit einem konstanten, unerschütterlichen Blick die Welt um ihn herum im Auge- direkt auf das schauend, was alle anderen nicht sehen wollten. Und er entschied sich auch dafür, auf seine eigene Art und Weise zu schreiben, nachdem er als frühreifer Leser erkannt hatte, dass die bestmöglichen Werke in der Erzähltradition bereits geschrieben worden waren. Zum Beispiel von Dostojewski, Tolstoi, Proust, Thomas Mann. Seine Einbildung war, etwas anderes schreiben zu wollen. Als begeisterter Student des Kinos, der Filme Eisensteins und vor allem Jean-Luc Godards, beschloss Misra, "Filme zu schreiben". Tatsächlich nennt er seine Geschichten "Filme". Damit führte er die Filmsprache in die bengalische Literatur ein. Er ließ sich auch von William Burroughs' Schnittmethode inspirieren und machte sie sich zu eigen.

Obwohl durch und durch bengalisch, aus einem bescheidenen, volkstümlichen Milieu stammend, stand Misra in der Welt der Literatur hoch im Kurs. Niemand kannte seinen Namen, aber er wusste genug, um einen weiterzubilden, über praktisch alles und jedes. Misra schrieb nur in "kleinen Magazinen", er mied den kommerziellen Mainstream. Obwohl er sich dafür entschied, am Rand zu bleiben, war und ist er für viele noch - oder wieder - eine mächtige und einflussreiche Persönlichkeit der Literatur und Kultur in Westbengalen, Indien und Bangladesch. Seit 2012 hat er sich krankheitsbedingt vom Schreiben zurückgezogen.

In einer editorischen Notiz zur französischen Übersetzung einer Sammlung von Misra-Geschichten schrieb ich, dass Frankreich vielleicht seine wirkliche spirituelle Heimat war, denn einige derer, die ihn am meisten inspirierten, stammten von dort - wie Proust, Sartre, Beckett, Godard und Foucault. Wie jemand mit Misras Hintergrund zum Kosmopoliten wurde, bleibt für mich ein ewiges Rätsel.

Misra sagte mir, dass, da sein Schreiben von der Erzählform abweicht, die gesamte Betonung auf der Sprache liege. Vielleicht waren es diese beiden Aspekte, der Blick eines kritischen Beobachters und die Auseinandersetzung mit Bengali, die mich zu seinem geistigen Verwandten machten. Ich hörte seinen Namen rein zufällig im Jahr 2005. Das verdanke ich einem Freund, Mrinal Bose, einem Arzt und Schriftsteller. Seitdem schicke ich, sobald ich etwas von Misra fertig übersetzt habe, es an Mrinal, damit er mir ein Feedback gibt. Auf den letzten Text antwortete er: "Ich habe es in einem Rutsch gelesen. Ich fand es sehr aufregend. Es gibt keine Handlung - und doch ist sein Schreiben voller Elan und von einer modernen Sensibilität. Es hat eine seltsame Wirkung auf mich ..."

Seitdem kam ich nicht mehr zum Übersetzen, unsere kleine Familienfirma zur Herstellung von Rotametern nahm zu viel Zeit in Anspruch. Der Lockdown in Kalkutta steht nun kurz vor dem Ende. Heute Morgen erhielt ich aus heiterem Himmel eine Nachricht von Manisha, einer Hindi-Übersetzerin. Sie schrieb, dass ihr ein Buch von Subimal Misra empfohlen worden sei, das ich übersetzt habe, und dass sie, nachdem sie die allererste Geschichte gelesen hatte, angefangen habe, sie in Hindi zu übersetzten. Einfach nur zur Übung.

Der "Subimal-Misra-Lockdown" ist eine Möglichkeit, wie ich mich vielleicht einmal an die jetzige Zeit erinnern könnte.

V. Ramaswamy, Jahrgang 1960, ist Lehrer, Autor, Übersetzer, Sozialplaner und Bürgeraktivist. Aus dem Englischen von Christine Dössel.

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SZ vom 03.06.2020
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