Favoriten der Woche:Sehen, was für die Kameras unsichtbar ist

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Was wird aus einem, der sich selbst für vollkommen machtlos hält? (Foto: Joe Sacco/Edition Moderne)

Eine zum Klassiker gewordene Comicreportage aus Gaza, die Schönheit alter Dächer und ein musikalischer Amerika-Trip: die Kulturempfehlungen der Woche aus dem SZ-Feuilleton.

Von Gerhard Matzig, Harald Eggebrecht, Martina Knoben

Graphic Novel: „Palästina“ von Joe Sacco

Am Ende des Buchs, das 1993 erschien, gibt es eine unheimlich prophetische Szene. In der Comic-Sequenz wird ein vielleicht zwölf oder dreizehn Jahre alter palästinensischer Junge von israelischen Soldaten verhört. Es regnet in Strömen, die drei Soldaten stellen sich unter ein Vordach, den Jungen aber zwingen sie, seine Kufija abzunehmen und im Regen zu stehen. Er beantwortet ihre Fragen. „Aber was dachte er?“, schreibt Joe Sacco. „Etwa: Eines Tages werden wir eine bessere Welt haben, und diese Soldaten und ich, wir werden uns als Nachbar grüßen?“ – „Oder bloß: Eines Tages –“, „Eines Tages!“ Das Gesicht des gedemütigten Jungen füllt fast das gesamte Panel, er beißt die Zähne zusammen, die Augen sind zwei Schlitze, während Regen in dicken weißen Strichen wie aggressiver Schleim ihn durchweicht. „Was wird aus einem“, fragt Sacco im letzten Bild dieser Sequenz, „der sich selbst für vollkommen machtlos hält?“

Joe Sacco, 1960 auf Malta geboren und in den USA lebend, reiste im Winter 1991/92 während der ersten Intifada nach Gaza und ins Westjordanland, schrieb und zeichnete daraufhin seine Graphic Novel „Palästina“. Sie begründete die – mittlerweile verbreitete – Gattung der Comicreportage und wurde ein Klassiker.

Die Edition Moderne hat „Palästina“ neu aufgelegt. Wer verstehen – sehen! – will, woher der Hass der Palästinenser rührt, sollte das Buch lesen. Sacco zeigt ihr Leiden aus nächster Nähe: alltägliche Demütigungen, Folter, die erbärmlichen Zustände in den Flüchtlingslagern. Er stellt sich auf die palästinensische Seite, weil er, wie er sagte, die einseitige proisraelische Berichterstattung in den USA sattgehabt hätte. Für die Einseitigkeit von „Palästina“ wurde er viel kritisiert.

Als Reporter ist er dicht dran und zeichnet auch, was keine Kamera sehen kann: die Gefühle der Menschen, die Spuren der Gewalt. Von seinen palästinensischen Gastgebern lässt er sich ihre Schuss- oder Folterwunden zeigen, natürlich ist das nicht objektiv. Dass man es nicht mit klassischem Nachrichtenjournalismus zu tun hat, den Darstellungen und Erzählungen nicht im einfachen Sinn zu trauen ist, sieht man schon den Zeichnungen an. Vieles wirkt grotesk, wenn etwa Sacco Angst, Wut oder Schmerz einer Figur in übergroß gezeichnete körperliche Details übersetzt, oder wenn ein Gesicht fast nur aus einer Reihe gebleckter Zähne besteht. Dazu sind die Seiten meist übervoll, alles wirkt unübersichtlich. In ihrem Nachwort zur Neuauflage weist die Journalistin Amira Hass darauf hin, dass in dieser Überfülle nur eines fehlt: Hoffnung. Martina Knoben

Ausstellung: „In eigener Sache“ im Allgäu

Blick in die Ausstellung „In eigener Sache“. (Foto: HENRY M.LINDER)

Eine gute Nachricht: Deutschland hat das diesjährige Solarenergie-Ausbauziel erreicht. Was die Sonne angeht, sind wir auf Kurs. Und jetzt die nicht so gute Nachricht – jedenfalls für Ästheten: Dass Deutschland so gut dabei ist in Sachen Solarenergie, hat auch eine Nebenwirkung. Dachlandschaften verändern sich drastisch.

Was unter Klimaschutzaspekten willkommen sein mag, ist unter Stadtbildmotiven mitunter denkwürdig. Denn die überraschend gute Solarausbeute verdankt sich nicht allein den großen Solarfarmen neben der Autobahn, sondern auch privaten Dächern. Die, vorsichtig formuliert, nicht schöner, sondern nur fleckerlteppichartiger werden im Solarzeitalter. Sogar Ikea bietet schon Sonnenarchitektur an: „Solstråle“. Als Architekturkritiker steht man oft ratlos davor: Müssen Dächer so scheußlich aussehen – um die Welt zu retten? Integrierte Lösungen, Dachhäute etwa, die bereits als Solarzellen fungieren, gibt es zwar auch, aber solche stimmigeren Lösungen sind teuer.

Was verloren geht an einer in Jahrhunderten herangebildeten Dachästhetik, lässt sich bis 10. November in einer Ausstellung in Kißlegg nahe Ravensburg bestaunen: im „Schauraum“ der Flaschnerei Huber (Schlossstraße 58/1). Und zwar unter dem angenehm unknalligen Titel „Die Schönheit historischer Blecheindeckungen und deren Erhalt“. Gezeigt werden, und schon diese Worte gehören unter Kulturschutz, neben den Besonderheiten herausragender Metallbedachungen auch „bizarr geformte Haften, historische Falzverbindungen und Rollnieten“. Wolfgang Huber ist übrigens Flaschnermeister. Der Flaschner, den man auch als Klempner kennt, als Spengler oder als Blechner, gehört zu den Berufen am Bau, die dem Himmel nahe sind. Huber ist bekannt für Restaurierungen von Blechdächern aus dem 18. und 19. Jahrhundert. 20 Projekte sind in Kißlegg zu sehen, darunter die Gnadenkapelle in Altötting und das kaiserliche Mausoleum in Graz.

Der eigentliche „Clou der Ausstellung“, schreibt Herbert Eichhorn, „sind die zahlreichen originalen Objekte: die Dachbleche mit ihrer malerischen Patina, die Kirchturmspitzen (...) die Zierknöpfe“. Malerisch! Patina! Bitte noch einmal genau hinsehen – bevor das Kupfergrün unter den Modulen wie unter schwarzer Plastikfolie verschwindet. Die Diskussion, wie sich Dachästhetik, Denkmalschutz und Umweltbelange ausbalancieren lassen, ist noch zu führen. Gerhard Matzig

Klassik: „American Road Trip“ von Augustin Hadelich

Das Album zeigt, wie reich die amerikanische Musik in all ihren Facetten sein kann. (Foto: Warner Classics)

Das ist wahrlich ein vitaler Streifzug durch so unterschiedliche Musiklandschaften der USA, dass man aus Verblüffung und Staunen kaum herauskommt: Vom populären Schmachtfetzen „Estrellita“ des Mexikaners Manuel Ponce im Violinarrangement von Jascha Heifetz bis hin zu John Adams’ minimalistisch-rasanten „Road Movies“, von Amy Beachs sehnsuchtsvoller Romance von 1893 bis zu Stephen Hartkes bizarren sechs „Netsuke“-Charakterstücken von 2011, die auch japanisches Instrumentarium nachahmen, geht es auf Augustin Hadelichs geigerischem „Road Trip“ – den immer eigenwillig originellen Charles Ives, den schwelgerischen Leonard Bernstein und den effektvollen Aaron Copland nicht zu vergessen. Und das dargeboten in einer überwältigenden Vielfarbigkeit, technischen Brillanz, tonlichen Wärme und vor allem einer Phrasierungsintelligenz, die ihresgleichen sucht. Kein Stück spielt dieser Musiker mal so nebenbei, allen gilt seine volle Aufmerksamkeit. Immer sucht und findet er den jeweils richtigen Charakterisierungston.

Für Hadelich ist dieses Album nicht nur eine musikalische Reise, die er bis auf drei Solostücke mit dem vorzüglichen Pianisten Orion Weiss durch amerikanische Musikstile und -räume unternommen hat, sondern auch eine Hommage an seine zweite Heimat. Denn seit 2004 lebt er in den USA und reist von dort aus in die Konzertsäle der ganzen Welt. Darüber hinaus zeigt das Album, wie reich die amerikanische Musik in all ihren Facetten sein kann, und das „nur“ mit Violine und Klavier vorgeführt.

Natürlich sind Stücke wie die 4. Violinsonate von Charles Ives, John Adams’ „Road Movies“ oder Stephen Hartkes „Netsuke“-Zyklus von ganz anderem Gewicht und Gehalt als William Krolls beliebtes Zugabe-Stück „Banjo and Fiddle“ oder die elegant-melancholische „Black Gypsy“ des genialen schwarzen Geigers Eddie South, der sich bei seinen Auftritten in Europa auch vom Jazz der Roma inspirieren ließ. Doch gerade die Mischung macht’s, weil sie nicht nur musikalische Vielfalt präsentiert, sondern absolut imponierend die Differenzierungskunst des Weltgeigers Augustin Hadelich. Gut vorstellbar, dass diesem Trip ins musikalische Amerika weitere Expeditionen folgen, es wäre mehr als wünschenswert. (Warner Classics) Harald Eggebrecht

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