Süddeutsche Zeitung

Jugendliteratur:Masern sind keine Gesichtspunkte

Wie fühlt sich ein Kind von Impfgegnern, wenn es erwachsen wird? Die 16jährige Juniper muss sich mit ihren Eltern auseinandersetzen. sie sind entschiedene Impfgegner

Von Susan Vahabzadeh

Wenn jemand eine Allergie hat gegen Bienengift, geht er mit jedem Ausflug in die Natur ein tödliches Risiko ein. Ist das eine andere Gefahr, die ein komplett ungeimpfter Mensch eingeht, wenn er sich in einer Welt bewegt, in der Masern und Röteln und Tetanus auf ihn warten? Marisa Reichardts Jugendroman "Immunity" geht manchmal so rücksichtsvoll mit unterschiedlichen Ansichten um, dass ihm die Sinnlichkeit abhanden kommt, aber leicht gemacht hat sie es sich nicht. Das Problem ihrer Erzählerin Juniper mit ihrer Familie wird von zwei Seiten beleuchtet, und der Unterschied zwischen einem Risiko, das man für sich selbst eingeht, und dem Schaden, den man möglicherweise anderen zufügt, spielt darin eine zentrale Rolle. Aber Argumente, die auf tönernen Füßen stehen, lässt die Autorin nicht gelten.

Wie ist das, wenn ein Kind langsam erwachsen wird und seinen Eltern nicht mehr alles glaubt?

Zunächst einmal sind Junipers Eltern ziemlich nette Menschen, die vorwiegend das Wohl ihrer Kinder und des Planeten im Sinn haben und darauf nur eine andere Sichtweise haben als die meisten Menschen. In ihrer Welt ist Cola ungesundes Zuckerwasser, Handys sind krebserregend und das Internet ist ein Teufelszeug, das nicht über ihre Schwelle darf. Zur Schule in der kalifornischen Kleinstadt, in die sie mit ihrer Familie gerade gezogen sind, darf Juniper nicht. Ihre Schule ist der Küchentisch, Homeschooling nennt man das in Amerika. Juniper ist sechzehn, und das mit der Schule, wo sie gleichaltrige Jugendliche kennenlernen würde, sie sich langsam wirklich wünschen. Aber ansonsten ist sie ein glückliches Kind. Es geht bald nicht mehr um Blumenkohl statt Pizza, die netten, wohlmeinenden Eltern sind Impfgegner, und sie waren es schon, als Juniper auf die Welt kam. Sie wird sich dessen erst bewusst, als sie plötzlich schwer krank wird - die Masern, stellt sich heraus, als sie ins Krankenhaus muss. Was, denkt sie nun, während ihre kleinen Geschwister auch krank werden, wenn sie sich als nächstes Polio holt? Und es kommt noch schlimmer: Auf dem Wochenmarkt, wo sie mit ihrer Mutter Kräuter verkauft, hat sie unwissentlich ein Neugeborenes angesteckt, dass an den Masern stirbt.

In den USA hat sich, schreibt Reichardt im Anhang ihres Buches, die Zahl der komplett ungeimpften Kinder zwischen 2001 und 2018 vervierfacht - die Masern galten dort schon mal als ausgerottet, dann kehrten sie zurück. In Deutschland war es ähnlich, 2013 kam es beispielsweise in München zu einer Epidemie, 2020 trat das Masernschutzgesetz in Kraft. Seit den vielen Schulschließungen spielen Masern eine eher untergeordnete Rolle - aber es gibt sie noch, wie auch viele andere Krankheiten, die Ungeimpften gefährlich werden können. In Kalifornien, wo Reichardts Buch spielt, verlangt das Gesetz diverse Impfungen, damit Kinder eine öffentliche Schule besuchen können - Juniper dürfte nicht einmal die High School besuchen, wenn ihre Eltern sie ließen. Reichardt hat sich da ein Thema ausgesucht, das sehr auf der Höhe der Zeit ist, nicht nur der Virenlastigkeit wegen, sondern auch, weil nebenher noch ein bisschen Canceln via Facebook darin vorkommt.

Wie ist das, wenn ein Kind langsam erwachsen wird und seinen Eltern nicht mehr alles glaubt? Juniper hat am Küchentisch gelernt, sie solle alles hinterfragen - damit, dass sie sich nun über Nutzen und Risiken von Impfungen informiert und zu dem Schluss kommt, sich zur Not gegen ihre Eltern zu stellen, haben die nicht gerechnet. Was sie da abwägt, hat auch viel mit Gemeinschaft zu tun - sie fühlt sich für den Tod des Säuglings verantwortlich. Aber Reichardt erzählt auch, wie die Gemeinschaft reagiert: Die ist nicht einfach bloß vorsichtig im Umgang mit Junipers Familie, es beginnt eine richtige Hetzjagd. Juniper hält das nur durch, weil sie einen Freund gefunden hat, Nico, der ihr hilft, eine Anwältin zu finden. Damit nehmen Junipers Nöte eine neue Dimension an: Jetzt hat sie Angst, ihre irrenden Eltern zu verletzen. Geht dann aber nicht anders. Immer noch lieber ein ruiniertes Weihnachtsfest als ein ruiniertes Leben. Masern sind keine Gesichtspunkte. Wie fühlt sich ein Kind von Impfgegnern, wenn es erwachsen wird? Der Jugendroman "Immunity" - gibt darauf eine deutliche Antwort.

Maria Reichardt: Immunity. Aus dem Englischen von Rita Gravert. Moon Notes 2021. 352 Seiten, 15 Euro.

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