Berlinale:Ein kleiner Junge zwischen Fischern und Flüchtlingen

Die Dokumentation "Fuocoammare" erzählt vom Leben auf der Mittelmeerinsel Lampedusa.

Filmkritik von David Steinitz

Problemfilm, der (Substantiv, maskulin, Plural: Problemfilme): Ein gerade auf großen Filmfestivals gehäuft auftretendes Subgenre des Kinos, das den Zuschauer im Allgemeinen und preisverleihende Jurymitglieder im Besonderen mit heftigen Stoffen malträtiert, um Relevanz zu suggerieren.

Fallbeispiel eins: Der portugiesische Film "Cartas da guerra/Letters from War" von Ivo M. Ferreira konkurriert in diesem Jahr mit 17 anderen Filmen im Wettbewerb der Berlinale um den Goldenen Bären. Über die Geschichte eines Militärarztes, der im Jahr 1971 in den Kolonialkrieg nach Angola geschickt wird, lässt sich leider lediglich sagen: Nur weil's schwarz-weiß ist und alle rauchen, ist's noch lange keine Kunst.

Bei Fallbeispiel zwei ist die Lage etwas anders. Das Drama "24 Wochen" über eine junge Kabarettistin und ihren Manager-Mann, die ihr zweites Kind erwarten und erfahren, dass es mit Downsyndrom zur Welt kommen wird, ist der einzige deutsche Beitrag im Berlinale-Wettbewerb. Von ein paar Koproduktionen abgesehen, die zumindest mit teilweise deutscher Beteiligung - vor allem durch Kofinanzierung - entstanden sind, ruhen auf "24 Wochen" die schweren Erwartungen der heimischen Branche. Bereits im Vorfeld war selbst für Berlinale-Verhältnisse besonders laut debattiert worden, warum nicht mehr genuin deutsche Produktionen in den Wettbewerb aufgenommen worden seien und dass sich dies beim nächsten Mal bitte dringend zu ändern habe. Weil das deutsche Kino oft eine besonders hohe Affinität zum Problemfilmgenre hat, sollte man allerdings recht vorsichtig sein, was man sich da wünscht.

Jedenfalls: 2016 repräsentiert die Regisseurin Anne Zohra Berrached mit "24 Wochen" das deutsche Kino im internationalen Wettbewerb. Der Film ist ein durchaus gut inszeniertes, vor allem gut gespieltes Drama. In den Hauptrollen Julia Jentsch und Bjarne Mädel als Paar, das sich zwischen einem Leben mit einem behinderten Kind und einer Abtreibung entscheiden muss.

Auf der anderen Seite ist das Werk auch ein Musterbeispiel für die emotionale Zwickmühle, in die der Problemfilm seine Zuschauer schnell zwingt: Beim Anschauen hat man oft das Gefühl, nicht mehr nach ästhetischen Kategorien urteilen zu dürfen, sondern nur nach den Regeln der puren Betroffenheit. Und die erreichen Themen wie Kindesmissbrauch, Krebs oder Abtreibung, die im deutschen Kino gehäuft vorkommen, besonders effektiv.

"Fuocoammare", auf tragische Weise komisch

Anne Zohra Berrached hat mit Sicherheit keinen der schlimmen Problempornos gedreht, von denen in den letzten Jahren auch auf der Berlinale einige zu sehen waren. Ihr geht es vor allem um den quälenden Entscheidungsprozess des Paars, und den zeichnet sie gefühlvoll nach. Aber die zermürbende Überwältigungsmaschinerie, die sie mit der dann getroffenen Entscheidung zum Schluss des Films anwirft, versucht doch ein wenig, das Potenzial dieser Geschichte hinter der Schwere des Themas zu verstecken.

Fallbeispiel drei - der italienische Dokumentarfilm "Fuocoammare" - geht sein schweres Thema anders an und gilt nach diesem ersten Wettbewerbswochenende zu Recht als erster Favorit für den Goldenen Bären. Der Regisseur Gianfranco Rosi porträtiert darin einen zwölfjährigen Jungen namens Samuele, der auf einer Mittelmeerinsel lebt und eines Tages gerne Fischer werden möchte, wie so viele in seiner Familie vor ihm. Rosi zeigt den Alltag des Jungen und seiner Familie: Spaghetti mit Tintenfisch, Englisch-Hausaufgaben, Holzschleuder basteln, Augenarztbesuch. Nur: Samuele lebt nicht auf irgendeiner Mittelmeerinsel, sondern auf Lampedusa - jener Insel zwischen Tunesien und Sizilien, die stellvertretend für so viele zum Bild der Flüchtlingskrise geworden ist.

Berlinale: Der Regisseur Gianfranco Rosi (rechts) und sein Protagonist Samuele Pucillo auf der Berlinale

Der Regisseur Gianfranco Rosi (rechts) und sein Protagonist Samuele Pucillo auf der Berlinale

(Foto: AFP)

"Fuoco a mare", Feuer auf dem Meer, ist ein italienischer Nachkriegsschlager, den sich die Tante des Jungen in einer Szene beim lokalen Radio wünscht, um den Fischern unten am Hafen Glück und einen reichen Fang zu wünschen. Feuer auf dem Meer ist aber natürlich auch eine gute Zeile für das, was in diesem Inselkosmos passiert und was der Regisseur so eindringlich wie elegant porträtiert: das Nebeneinander eines recht geordneten mediterranen Alltags - und die Abertausende, die übers Meer zu kommen versuchen und von denen so viele ertrinken.

Die Fischer und die Flüchtlinge - das sind Welten nebeneinander, die sich nicht berühren

Rosi zieht, vom Alltag seines Protagonisten ausgehend, zu immer größeren Streifzügen über die Insel los, auch aufs Meer hinaus. Er spricht mit einem Inselarzt, der nicht nur die einheimischen Jungs untersucht, sondern auch die Leichen der aus dem Meer Gefischten. Er hört sich die Notrufe von überfüllten Schlepper-Booten an, die Nacht für Nacht über Funk bei der Küstenwache von Lampedusa eintreffen, und er fährt auch hinaus zu den Menschenhaufen, die auf die viel zu kleinen Boote gepresst wurden. Er sieht sich auch in den Rettungshubschraubern um und in den Aufnahmelagern, wo die gold-silbernen Rettungsfolien über ausgemergelten Körpern knistern.

Sein dokumentarischer Ansatz kommt dabei ohne erzwungene Betroffenheitsrhetorik aus, Rosi kommentiert seine Bilder nicht, weder die tragischen noch die komischen. Denn ja, das ist dieser Film auch: auf tragische Weise komisch. Wie nah können zwei Welten nebeneinander existieren, ohne sich berühren zu müssen, das ist die Frage, die er aufwirft. Während die Flüchtenden hoffen, die Meerespassage zu überleben, sucht der kleine Samuele bei den erfahrenen Fischern um Rat, wie er denn nur seine ständige Seekrankheit kurieren könne.

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