Im Kino: "Wolke 9":Was ist denn dabei?

Sex mit siebzig, das wäre doch mal was: In "Wolke 9" von Andreas Dresen wird die Wirklichkeit abgebildet. Die Dreiecksgeschichte inklusive Kontrollverlust zeigt Liebe im Alter als Tabubruch.

Martina Knoben

Natürlich kann man die Frage stellen, ob dieser Film funktionieren würde, wenn seine Figuren nicht um die siebzig, sondern, sagen wir: Anfang dreißig wären. Die Geschichte von "Wolke 9"- Boy meets Girl, Sex, Liebe und Ehebruch - ist so simpel, dass leicht der Eindruck entstehen kann, als seien filmische Standardsituationen nur mal mit Senioren besetzt worden.

Im Kino: "Wolke 9": Ursula Werner und Horst Westphal verkörpern glaubhaft das alternde Liebespaar.

Ursula Werner und Horst Westphal verkörpern glaubhaft das alternde Liebespaar.

(Foto: Foto: Senator Filmverleih)

Die Frage verkennt allerdings das Wesen von Andreas Dresens Kino. Während im deutschen Film gerne Attribute wie angepappt an den Figuren kleben - besonders negativ haben sich in dieser Hinsicht die Beziehungskomödien der Neunziger hervorgetan -, sind in Dresens Arbeiten die Menschen durch ihre Lebensumstände definiert.

Was einer arbeitet, wie er wohnt, wie alt er ist und was er anzieht - all die Kleinigkeiten, die das Leben sind, nimmt Dresen eben nicht als Accessoires: Sie bilden die Räume, in denen seine Figuren eingezwängt sind, aus denen sie immer wieder überraschend ausbrechen - das ist das utopische Moment in diesem Wohnküchen-Realismus.

Die Diskussionen über "Wolke 9" haben sich bislang vor allem auf die Sexszenen konzentriert. Dabei erzählt dieser Film vor allem davon, dass ein Mensch die Kontrolle über sein Leben verliert. Inge (Ursula Werner) ist Ende sechzig, als sie die Leidenschaft zu Karl (Horst Westphal) erwischt wie eine Krankheit. Karl hatte ihr eine Hose zum Kürzen gegeben.

Wie Inge diese Hose fertig näht - eine typische Altfrauenbeschäftigung, wie man zunächst denkt -, an einem heißen Sommertag zu ihm fährt, Treppen emporsteigt und schließlich verschwitzt, mit am Kopf klebenden Haaren vor ihm steht, wie die beiden bei der Anprobe von der Lust überwältigt werden und miteinander ins Bett gehen, das entwickelt einen solchen Sog, eine sinnliche Gegenwärtigkeit, dass die Scheu zurücktritt, die viele Zuschauer beim Anblick sich liebender alter Menschen empfinden dürften.

Dabei sind diese Sexszenen keineswegs verschämt inszeniert. Falten, Altersflecken, weiche, welke Haut sind zu sehen. Dresen verzichtet auf die üblichen Schnitte, die Großaufnahmen, die verallgemeinern, wo sie konkret sein könnten, zeigt auch hier die Details, die das Leben sind, statt glatter Körper, zerwühlter Laken oder eines stöhnenden Mundes. Weil das im Mainstreamkino bislang niemand gemacht hat und Dresen den Blick auf die "Wirklichkeit" als Mission versteht, tut er das zu demonstrativ und zu ausführlich.

Die abgeklärte Haltung der Zuschauer

Von Tabubruch war oft die Rede, was manche zum Gähnen, andere stimulierend finden - beide Seiten missverstehen den Film damit allerdings als Versöhnungsprojekt. Das hätte er leicht sein können: Guter Sex mit siebzig - das wäre doch mal was! Wie beruhigend, wenn das Leben, wie wir es kennen, Sex inklusive, auch im Alter weiterginge! Der Film erzählt tatsächlich das Gegenteil, von Diskontinuität, Kontrollverlust und den Folgen, die das hat, vor allem für Inges Mann Werner (Horst Rehberg). Inge hätte ihre Liebe zu Karl auch verschweigen können. Die abgeklärte Haltung vieler Zuschauer spricht ihre Tochter aus, die der Mutter rät, es bei der heimlichen Affäre zu belassen. Da Inge ihren Mann aber wirklich liebt, gelingt ihr das nicht.

Erst vor der Folie sorgfältig nachempfundener Biographien sind die fundamentalen Erschütterungen überhaupt erzählbar, um die es in Dresens Filmen vor allem anderen geht. Der Ehebruch in "Halbe Treppe", der Einbruch in "Willenbrock" oder jetzt Inges Liebe sind Katastrophen für die Protagonisten, in denen man die Erschütterung gespiegelt sehen kann, die der in der DDR aufgewachsene Dresen selbst erlebt hat. Dass der Regisseur sich und seine Geschichten so wenig als "Ossi" wahrnimmt, widerspricht dem nicht, im Gegenteil.

Inwieweit Dresen, der sich gern jungenhaft harmlos gibt, mit den Missverständnissen spekuliert, die sein Film vor allem durch die Sexszenen auslöst, bleibt offen. Was ist denn dabei?! Mit dieser Haltung, die naiv sein könnte oder besonders raffiniert, aber vermutlich beides ist, auf eine spezifisch ostdeutsche Art - auch früher hat Dresen schon verblüfft, wenn er etwa wuchernde Achselhaare beim Aerobic zeigte -, mit dieser Haltung präsentiert er jetzt auch die minimalistische Geschichte von "Wolke9". Der hätte eine sorgfältigere Ausarbeitung gut getan, wie sie bei "Willenbrock" die Vorlage von Christoph Hein und bei "Sommer vorm Balkon" das Drehbuch von Wolfgang Kohlhaase mitgebracht hatten.

Improvisation statt gutes Aussehen

So wirkt der Film gelegentlich zu gemütlich und sieht auch nicht immer gut aus, weil Dresen, wie in "Halbe Treppe", mit der Digitalkamera gedreht hat. Er wollte mit seinen Schauspielern improvisieren - und das Konzept geht auch über weite Strecken auf, weil Ursula Werner, Horst Rehberg und Horst Westphal exzellente Schauspieler sind, die mit ihrer Freiheit etwas anfangen können. So nahe wie in diesem Film ist einem der Sex und die Liebe von Leinwandmenschen jedenfalls selten gegangen.

Während manche Aufnahmen eher amateurhaft wirken - wie der Chor, in dem Inge singt, dessen Lieder ihre Liebesgeschichte zu kommentieren scheinen -, finden Dresen und sein Kameramann Michael Hammon für andere Szenen eine überzeugende Ästhetik, die alles andere als naiv mit dem Authentizitätsversprechen der Digitaltechnik umgeht. Wenn etwa Inge und Karl sich zum ersten Mal lieben, gleißt der Hintergrund der Szene aus, weil sie vor einem sonnenhellen Fenster spielt und Dresen den Kontrast nicht durch Lichtsetzung im Innenraum mildert.

Sehr künstlich sieht das aus und transportiert gerade deshalb die Außerordentlichkeit des Moments. Wie ein Voyeur dagegen nähert sich die Kamera den häuslichen Szenen zwischen Inge und Werner, blickt durch einen Türrahmen in ihre Küche, was den Stillstand dieser Beziehung überzeugend dokumentiert.

Vor allem diese Szenen zeigen Dresens Können, wenn sie pointiert den Zustand dieser Ehe vermitteln - und deren Zerfall, als Inge Werner über ihr Verhältnis mit Karl informiert. Dass Inge nicht schweigen kann, dass man manchmal das Falsche einfach tun muss - die sanfte Radikalität dieser alten Frau spiegelt auch überzeugend die Arbeitsweise und Haltung ihres Regisseurs.

WOLKE 9, D 2008 - Regie: Andreas Dresen. Kamera: Michael Hammon. Schnitt: Jörg Hauschild. Mit: Ursula Werner, Horst Rehberg, Horst Westphal, Steffi Kühnert. Verleih: Senator, 98Minuten.

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