Im Kino: Wer, wenn nicht wir:Der Vesper-Ensslin-Komplex

Im dunklen, bösen Wald der Zeitgeschichte: Andres Veiels "Wer, wenn nicht wir" erzählt von den Anfängen der RAF und lässt die Urszenen des deutschen Terrorismus wie einen großen Albtraum aussehen.

Rainer Gansera

Eine irre Lovestory: wildromantisch, abgründig, tragisch, selbstzerstörerisch, ins Herz des gesellschaftlichen Tumults sich stürzend, vom Hauch der Geschichte umweht. Jeder Dramaturg, dem man das Szenario zu einer solchen Liebesgeschichte vorlegte, würde es als zu konstruiert, zu aufgedonnert, an den Haaren herbeigezogen von sich weisen. Nur das Leben selbst kann sich solche Unwahrscheinlichkeit erlauben.

Kinostarts - 'Wer wenn nicht wir'

Zwei Liebende, die sich nach Erlösung durch Liebe sehnen, Hass predigen, und in die Sackgasse der Selbstzerstörung taumeln: Lena Lauzemis als Gudrun Ensslin und August Diehl als Bernward Vesper in "Wer, wenn nicht wir".

(Foto: dpa)

Schon diese bizarre Ausgangslage. Da ist, einerseits, eine schwäbisch-protestantische Pfarrersfamilie, in der die moralische Unbedingtheit zum Schneiden dick in der Wohnküche steht. Die hübsche, begabte Tochter darf studieren, als einziges der sechs Kinder: Philosophie, Anglistik und Germanistik in Tübingen.

Da ist, andererseits, eine alter Blut-und-Boden-Dichter auf einem Landgut im Grünen, erfolgreich in der Nazizeit, jetzt aber verfemt. Seinen kleinen Sohn, der Katzen liebt, belehrt er einmal: "Katzen gehören nicht zu uns. Sie sind die Juden unter den Tieren!"

Dieses Mädchen und dieser Junge lernen sich an der Uni kennen, lieben sich wild und heiraten brav, gehen 1964 nach Berlin, geraten in die Milieus von Bohème und Außerparlamentarischer Opposition, haben ein Kind, trennen sich. Das Finale ihrer Liebesgeschichte könnte man sich steiler gar nicht ausdenken: Sie wird, als Terroristin, eine ganze Generation in Aufruhr versetzen; er, der Schriftsteller werden will, versinkt in Drogensucht und Wahnsinn. Schlusspunkt bei beiden: Selbstmord.

Die Protagonisten von "Wer wenn nicht wir" heißen Gudrun Ensslin und Bernward Vesper. Der Regisseur Andres Veiel hat - ausgehend von eigenen Recherchen und Gerd Koenens exemplarischer Studie "Vesper, Ensslin, Baader - Urszenen des deutschen Terrorismus" die Geschichte zu einem fulminanten, verstörenden und erhellenden Spielfilm geformt, seinem ersten. Mit größter Detailtreue und brillanten Darstellern verwebt er Gesellschaftliches und Privates. Eine Vorgeschichte zum deutschen Terrorismus, wie sie in derart biographischer Eindringlichkeit noch nicht erzählt wurde, und dazu ein spannendes Lehrstück zur Identitätssuche junger Deutscher nach dem Krieg.

Mit Selbstmorden und den biographischen Voraussetzungen des deutschen Terrorismus kennt Andres Veiel sich aus. Als Dokumentarist hat er sich bei "Die Überlebenden" und "Black Box BRD" in entsprechende Stoffe hineingegraben. Hier nun stellt er die Figur der Gudrun Ensslin ins Zentrum, und Ensslin-Darstellerin Lena Lauzemis wurde bei der Berlinale - wo der Film im Wettbewerb lief - als schauspielerische Entdeckung gefeiert. Ihre Gudrun-Figur gewinnt derart vielschichtig flirrende und einnehmende Kontur, dass man ihr Sympathie kaum verweigern kann. Gerade im letzten Drittel, wo sie unter den Bann des Aktionisten Andreas Baader (Alexander Fehling) geraten ist, erscheint Ensslin in ihrer Verwirrung derart romantisch-schön, dass man sie am liebsten wachrütteln und vor Baaders Fallstricken retten möchte.

Man spürt, wie sie ihre Gefühle hinter Härte versteckt, wenn sie die Arme in die Hüften stemmt und sagt: "Andreas und ich fahren weg! Wenn wir zurückkommen, wohne ich hier nicht mehr!" Sie lässt Kind und Mann zurück, wird mit Baader in Frankfurt ein Kaufhaus in Brand stecken. Sie ist fasziniert vom Sexappeal und vom dreisten "Nicht labern - eins in die Fresse"-Aktionismus Baaders. Hart gegen die eigenen Gefühle sein - das ist für sie ein Zeichen von Stärke. Und von Stärke zeigt sie sich immer tief beeindruckt.

Bernward Vesper, 1964: "Die Generation, die Hitler bejahte, wird vielleicht in die Geschichte eingehen als das erste Beispiel einer bis dahin für unmöglich gehaltenen Massenschizophrenie: hier die Familienszene, die außerordentliche Gemütseinfalt, dort das Henkersgeschäft... im Grunde war die Ambivalenz ihrer Verhaltensweise nichts anderes als das untrügliche Zeichen für die totale personale Leere, für die grenzenlose seelische Armut, die erfreut und überbereit den Appell an die Entpersönlichung aufnahm."

An den Rand des Selbstmords

Die Überzeugungskraft von Veiels Figurenzeichnung entsteht daraus, dass er die "personale Leere" seiner Charaktere erkundet, bis in feinste Verästelungen. Eine Leere, die mit den verschiedensten Lebenskonzepten und Ideologien ausgefüllt wird. Verblüffend, wie Ensslin/Vesper zu Beginn zwischen Links- und Rechtsradikalismus schwanken. Bei Ensslin wandeln sich äußere Erscheinung und innere Haltung besonders markant. Mal ist sie - mit kurzen, blonden Haaren - die brave Pfarrerstochter, dann wagt sie mit Vesper ein Ménage-à-trois im Stil von Truffauts "Jules und Jim".

Läppisches muss man keine Sekunde befürchten

Die Unbedingtheit, mit der sie die Liebe zu Bernward leben will, führt sie bis an den Rand des Selbstmords: Sie setzt sich in Glasscherben, füllt sich mit Alkohol ab, wird in winterlicher Schneelandschaft gerade noch gerettet. Dann fahren Ensslin/Vesper sonnenbebrillt im VW nach Berlin und tollen herum wie die junges Liebespaare aus den Filmen des Neuen Deutschen Kinos.

Ensslin wird vom Sog der Zeit in die verschiedensten Richtungen gezogen: vom hippiesken Protest zum SPD-Wahlkontor und weiter zum Brandanschlag auf das Frankfurter Kaufhaus. "Wir müssen das Leben mehr lieben als den Sinn des Lebens", sagt Dostojewskis Dimitrij Karamasow. Ensslin ist immer entschiedener bereit, das Leben den schroffsten Sinnfüllungen zu opfern, indem sie sich zur "Freiheitsheldin" und Märtyrerin stilisiert. Spannend ist, wie lange Veiel ihren Lebensweg offen hält, wie hartnäckig er sich einer Es-musste-so-kommen-Dramaturgie verweigert.

Man kann Veiels Erzähllogik allerlei Vorwürfe machen: Bei der Vesper-Figur (großartig: August Diehl) zum Beispiel wird nicht wirklich durchsichtig, warum sie so sehr unter dem Bann der Vater-Gestalt leiden muss. Viele Szenen erscheinen verkürzt, als hätten sie im Drehbuch viel ausführlicher gestanden. Auch bleibt die quasireligiöse Selbststilisierung Ensslins in ihrer Abhängigkeit vom Elternhaus allzu undeutlich. In seinem Standardwerk "Der Baader Meinhof Komplex" hat Stefan Aust dafür die aufschlussreichsten Belege gebracht: Als Kommentar zu den Kaufhaus-Brandbomben der Tochter sagt Vater Ensslin da: "Für mich ist erstaunlich gewesen, dass Gudrun, die immer sehr rational und klug überlegt hat, fast den Zustand einer euphorischen Selbstverwirklichung erlebte, einer ganz heiligen Selbstverwirklichung, so wie geredet wird vom heiligen Menschentum!" Uli Edels Baader-Meinhof-Film zog diese Szene - wie vieles andere - ins Läppische eines Action-Spektakels. So etwas muss man bei Veiel in keiner Sekunde befürchten.

Gelungen ist Veiel die Zeichnung Baaders als Mix aus Möchtegern-Dandy und zynischem Aktionisten. Da nimmt er Linien auf, die schon Christopher Roths unterschätzter "Baader" prägnant gezogen hat. Aus der Fülle der Figuren ragt noch Sebastian Blomberg als Schriftsteller Klaus Roehler hervor. Herrlich, wie er die SPD-Politik (die Bildung der Großen Koalition) aufs Korn nimmt und Ensslin mit Rotwein und einem Streichholztrick imponieren will. Dieser Figur wäre man gern noch öfter begegnet.

Roehler fungiert als Berater bei Ensslins Doktorarbeit, die dem Schriftsteller Hans Henny Jahnn gewidmet sein soll. Als These dazu notiert Ensslin: "Bei Hans Henny Jahnn verwirklicht sich die Liebe erst durch den Tod. Durch Gewalt, durch Mord wird es erst möglich, dass Sexualität gelebt wird". Eine Maxime, aus der für ihr eigenes Leben ein Horrorszenario entspringt. Diesen Horror nimmt Veiel immer wieder eindrucksvoll auf - auch in den eingesprengten Archivaufnahmen - und lässt den Film schließlich wie einen großen Albtraum aussehen. Ensslin und Vesper sind zwei Figuren, die sich in einem dunklen, bösen Wald der Zeitgeschichte verlaufen. Zwei Liebende, die sich nach Erlösung durch Liebe sehnen, Hass predigen, und in die Sackgasse der Selbstzerstörung taumeln.

WER WENN NICHT WIR, D 2010 - Regie: Andres Veiel. Buch: Andres Veiel, Kamera: Judith Kaufmann. Musik: Annette Focks. Mit: Lena Lauzemis, August Diehl, Alexander Fehling, Thomas Thieme. Senator, 124 Minuten.

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