Im Kino: "Vorsicht Sehnsucht":Irrwitziger Wildwuchs

Lesezeit: 3 min

Widerspenstige Gewächse in einer feindseligen Umwelt: Ein wirrer Eigenbrötler und eine feuerköpfige Zahnärztin sind gefangen in der Psychopathologie des Alltags.

Fritz Göttler

Les herbes folles heißt der neue Film von Alain Resnais im Original. Das meint, er ist jenen wildwuchernden Gräsern gewidmet, die aus Mauerritzen und Asphaltspalten hervordrängen, all dem widerspenstigen Gewächs, das sich nicht unterkriegen lässt durch eine feindselige Umwelt, das eine widersinnige, aberwitzige Vitalität und Überlebenskraft entwickelt. Georges Patel und Marguerite Muir wären zum Beispiel solche Wildwüchse in diesem Film, verkörpert von Resnais' treuen Dauerakteuren André Dussollier und seiner Frau Sabine Azéma.

Eigenbrötlerischer Mann und feuerköpfige Zahnärztin: Sabine Azéma als Marguerite und André Dussollier als Georges. (Foto: Foto: dpa)

Ein eigenbrötlerischer Mann mit nicht ganz intaktem Familienleben und wirrem Gefühlshaushalt - und eine feuerköpfige Zahnärztin mit Flugschein. Verstörend die Naivität und manchmal wirklich hässlich das Intrigenspiel, mit dem sie uns durch diese kleine Psychopathologie des Alltags zerren, diese Studie übers menschliche Zusammenleben, für die der große Kinoanthropologe Resnais, der im Juni 88 Jahre alt wird, voriges Jahr in Cannes einen Spezialpreis bekommen hat.

Die Vorgaben sind klar, sie werden gleich am Anfang unerbittlich dargelegt, bevor die Erzählung sich wahnsinnig schnell ins Gehetzte und Konfuse verzieht. Es geht um Anpassung, um die schmerzliche Suche nach der richtigen Passform.

Madame Muir verlangt es nach einem neuen Paar Schuhe, und die Erfüllung dieses Wunsches ist ein umständliches Unternehmen. Es braucht seine Zeit, erklärt der Erzähler, wenn man will, dass die Sachen zusammenpassen, zusammengehen. Immer stimmt etwas nicht, immer fehlt eine Kleinigkeit, winzig nur, aber man muss entsagen, Kompromisse eingehen, sich kompromittieren. So einfach könnte es sein - so einfach ist es natürlich nie.

Hitzige Phantasien

Schon deshalb, weil Georges Palet ein rechter Rappelkopf ist, unbeherrscht und aggressiv, träumerisch und versonnen, lebenslustig und lüstern. Aber auch unruhig und unsicher, von melancholischen Schüben gepeinigt.

Gleich am Anfang zappelt hilflos der Sekundenzeiger seiner Armbanduhr übers Ziffernblatt, will den Geist aufgeben - flugs eilt Georges in ein Uhrengeschäft, um eine neue Batterie einlegen zu lassen. Die Frau, die ihm das besorgt, schlägt die langen Beine übereinander, und schon erhöht sich die Tick-Tack-Pulsfrequenz im Laden. Wenn Georges dann die Uhr zurück auf den Arm streift, spreizt er die Finger weit, zupackend auseinander.

Madame Muir wiederfährt gleich nach dem Schuhkauf ein schlimmes Malheur, ihr wird von einem Straßenjungen die Handtasche entrissen. Ausgerechnet Georges findet dann ihre Ausweise unter seinem Auto im Parkhaus. Das ist der erste Kontakt zwischen den beiden, imaginär, bis zur persönlichen Begegnung wird es noch eine Stunde Filmzeit vergehen, eine Stunde hitziger Phantasien und verfehlter Anrufe, auch die Polizei wird eingeschaltet, in Gestalt des liebenswürdigen langsamen Mathieu Amalric.

Ganz spielerisch wird das entwickelt - Ich bin ein Formalist, gesteht Resnais, seine Inszenierung folgt den Comics von Will Eisner -, aber es wirkt doch so, als zeichne er ein dunkles Bild von Sarkozy-Frankreich.

Ungebrochener Glaube an das Kino

Die Begegnung erfolgt dann über die Brücken von Toko-Ri. Das ist ein Film, den Georges sich eines Nachts anschaut, allein, in einem kleinen Programmkino, das ihn mit einem schönen Kinotransparent über dem Eingang bewirbt. Resnais' Glaube ans Überleben des Kinos ist ungebrochen.

Marguerite, als sie von Georges' Kinobesuch erfährt, setzt sich ins Café vor dem Kino, bestellt einen doppelten Espresso und wartet auf das Ende der Vorstellung. Einen doppelten Espresso um diese Zeit! - flüstert der Kellner den anderen späten Gästen zu, darin ist die ganze absurde Situation der beiden reflektiert.

Er habe Toko-Ri nie gesehen, versichert Resnais - aber es ist genau der Film für seinen Helden Georges: William Holden als Koreakriegspilot, Bill Holden, der große Abstürzler der Fünfziger, der sich selbstzerstörerisch zu Tode soff - er hatte für Toko-Ri zugesagt unter der Bedingung, dass die Produzenten den Schluss nicht ändern würden, wenn die Koreaner den Helden vom Himmel schießen.

Glühende Bilder

Vorm nächtlichen Kino kommt es endlich zur Begegnung, nun schrauben die beiden ihre Phantasien zusammen, ein Unternehmen, das so herzzerreißend und so wenig erfolgversprechend ist wie das von James Stewart und Kim Novak in Vertigo.

Man kann ihren Worten nicht wirklich trauen, und auch den glühenden Bildern nicht. Aber wie immer bei Resnais dürfen sie im - kontrollierten - Experiment aufeinanderprallen, bis das Innere sich nach außen stülpt und die Ängste, Sehnsüchte, Träume und Neurosen als die wahre Wirklichkeit sich outen.

Les herbes folles ist nach dem Roman L'incident, 1996, von Christian Gailly entstanden, die Dialoge sind wörtlich dem Buch entnommen. Ein Versuch, sagt Resnais, Gaillys Stil auf die Leinwand zu bringen, mit seinen Synkopen und Brüchen - diese Sätze, die mittendrin abbrechen mit einem kräftigen Punktum. Resnais ist - man weiß es von Robbe-Grillet, Duras, Semprún - der Darling der Literaten. Er dürfe sich unter seinen dreizehn Romanen den raussuchen, den er machen wolle, hatte Gailly ihm erklärt - nur wolle er selbst damit nichts zu tun haben, er müsse das nächste Buch schreiben.

Für Resnais wurde dann alles endgültig ganz easy, als er erfuhr, dass Gailly zwanzig Jahre Jazz machte, bevor er ans Schreiben ging. So verdruckst und verzweifelt diese wilden Gewächse sein mögen, ihr Zusammenspiel hat die Freiheit echter Improvisation, ohne jeden Zwang zu Bedeutung und Kunst. Darauf wartet er sein Leben lang, heißt es von Georges - endlich an nichts mehr denken zu können.

LES HERBES FOLLES, F 2009 - Regie: Alain Resnais. Buch: Alex Réval, Laurent Herbier. Kamera: Eric Gautier. Mit: André Dussollier, Sabine Azéma, Anne Consigny, Emmanuelle Devos. Schwarzweiss Filmverleih, 103 Minuten.

© SZ vom 22.04.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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