Im Kino: Vertraute Fremde:Hättest du gern ein anderes Leben?

Alexandra Maria Lara als Mutter und ein 50-Jähriger, der nochmal 14 sein darf: Sam Garbarskis Kino-Zeitreise-Trip kristallisiert Glücksmomente.

R. Gansera

Tendre comme le souvenir ... So sollten wir, befand François Truffaut, mit Menschen und Dingen umgehen: zärtlich wie die Erinnerung. Oft genug huscht das Jetzt schattenhaft dahin: farblos, glanzlos, uninspiriert. In der Erinnerung aber leuchten gerade die unscheinbarsten Augenblicke auf, sie erstrahlen golden und lebensfrisch.

Vertraute Fremde

Léo (im Bild mit seiner Mutter, gespielt von Alexandra Maria Lara) ist zum zweiten Mal 14 und hat das Wissen und die Lebenserfahrung eines Fünfzigjährigen.

(Foto: Foto: Verleih)

Könnten wir nicht das Jetzt schon so erleben: aufgeladen mit Erinnerungsglanz? Davon erzählt Vertraute Fremde. Der in München geborene, in Belgien lebende Regisseur Sam Garbarski überrascht nach der Familiensaga Der Tango der Rashevskis und dem kuriosen Ausflug ins Londoner Rotlichtmilieu Irina Palm mit einem melancholisch gestimmten und poetisch verspielten Zeitreise-Märchenspiel. Wunschphantasie und Traumabewältigung.

Die Erinnerung als Glücks-Detektor: In seinen meisterlichen Graphic Novels hat der Japaner Jiro Taniguchi das immer wieder zu pikturalen Meditationen geformt und zu phantastischen Storys ausgesponnen. So auch in Harukana Machi-E, der Vorlage für Garbarskis Spielfilm (bei uns erschienen im Carlsen Verlag), der die Geschichte in Frankreich ansiedelt und in seinen Bildern, dem Vorbild getreu, nach der Kristallisation von Glücksaugenblicken sucht.

Reise ins Jahr 1963

Zu Beginn: die Melancholie des Comiczeichners Thomas (wunderbar: Pascal Gréggory), dem keine neuen Geschichten mehr einfallen. Ein Künstler auf der Suche nach dem Quell seiner Inspiration, und die Quelle ist die Kindheit. Nach dem Besuch einer Comicmesse steigt Thomas in den falschen Zug, der schicksalshaft der richtige ist - er bringt ihn nicht nach Paris zurück, wo die Ehefrau und zwei Töchter auf ihn warten, sondern in das Provinzstädtchen, in dem er aufwuchs.

Dort, am Grab seiner früh verstorbenen Mutter, ergreift ihn eine Ohnmacht, die das Fantasy-Märchen in Gang setzt: Er erwacht als 14-jähriger Thomas (Léo Legrand), und weil dieser 14-Jährige nun das Wissen und die Lebenserfahrung des Fünfzigjährigen mitbringt, wird die Reise in das Jahr 1963 zum lustvollen Ausspielen einer Souveränität, wie er sie als Jugendlicher gern gehabt hätte.

Mühelose Landung

Dieser 14-jährige Thomas kann autoritär auftrumpfende Lehrer in ihre Schranken weisen, er wirbelt seine der Aufheiterung dringend bedürftige Mutter (Alexandra Maria Lara) tänzerisch durchs Wohnzimmer und kann bei der angehimmelten Mitschülerin, die so unerreichbar zu sein schien, mühelos landen. Er kann sogar Prophet spielen, die Mondlandung und den Fall der Mauer vorhersagen. Zugleich hat Thomas eine Mission: der 40.Geburtstag seines Vaters steht kurz bevor, und an diesem Tag hat der Vater die Familie ohne Erklärung verlassen - spurlos. Das Trauma, unter dem Thomas ein Leben lang litt und das ihm zum Wiederholungszwang wurde. Könnte er es nun abwenden?

Einmal begleitet er den Vater zum Angeln und fragt: "Hättest du gern ein anderes Leben geführt?" Die Frage trifft nicht nur den Nerv der mysteriös bleibenden Lebensgeschichte des Vaters, sie führt auch ins Zentrum unserer Wunschphantasien. Unser Wunsch sollte nicht sein, in eine ganz andere Wirklichkeit zu entfliehen, sondern in der eigenen Realität gegenwärtig zu leben. So erzählt Vertraute Fremde nicht von ausschweifender Fantasy, sondern von dem Glück, das sich in alltäglichsten Szenen finden lässt. Beim Spaziergang mit dem Hund im Wald, beim Badengehen mit den Freunden. So gelingt dem Helden die Wiederversöhnung mit dem Vater und mit sich selbst.

QUARTIER LOINTAIN, B/F/D 2009 - Regie: Sam Garbarski. Buch: Philippe Blasband, Jérôme Tonnerre. Nach Jiro Taniguchis graphic novel "Harukana Machi-E". Kamera: Jeanne Lapoire. Musik: AIR. Mit: Léo Legrand, Pascal Gréggory, Jonathan Zaccaï, Alexandra Maria Lara, Laura Moisson. X Verleih, 98 Minuten.

Außerdem laufen an:

Die Beschissenheit der Dinge, von Felix van Groeningen

Du sollst nicht lieben, v.Haim Tabakman

Keep Surfing, von Björn Richie Lob

Der Mann, der singt, von Peter Rippl

Mein Vater. Mein Onkel., von Christoph Heller

A Nightmare on Elm Street, von Samuel Bayer

Prince of Persia - Der Sand der Zeit, von Mike Newell

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