Im Kino: "Verblendung":Blick eines Mädchens

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Der Thriller als Phantomgeschichte: Wie gehört ihre Geschichte zusammen mit grausamen Frauenmorden, war Harriet Zeugin eines Verbrechens, wie viel Wissen verraten ihre Blicke und die der Frauen der Familie? Auch der Journalist hat ein Problem, er ist für eine seiner Enthüllungsgeschichten verurteilt worden und muss demnächst für ein paar Monate in den Knast.

Wie filmt man ein Vermächtnis? Stieg Larsson hat mit der Veröffentlichung gewartet, bis er alle drei Bände seiner Trilogie fertig hatte - durch seinen unerwarteten Tod vor fünf Jahren haben die Bücher eine zusätzliche Aura gewonnen. In seiner Arbeit für Vereine und Zeitschriften - in der linken Vereinigung Vierte Internationale, für Searchlight und Expo -, in seinen Artikeln, Vorträgen, Büchern lernt man den Aufklärer Larsson kennen, der an die Vernunft glaubt, auf den bedächtigen politischen Diskurs baut.

In seinen Büchern wuchert all das, was in diesem Diskurs oft verdrängt wird, das Triebleben, der Unterbau, das Unbewusste der modernen Gesellschaft. Die exakte Recherche erfährt ihre Grenzen, die Imagination ist als Erkenntnismittel gefragt - Freud hat das mit seinen Schriften zur Sexualtheorie, zu den Perversionen, Anfang des 20. Jahrhunderts durchgespielt.

Perversion, politisch und sexuell

"Männer, die Frauen hassen" heißt Larssons Buch im Original, und dieser Hass ist der bürgerlichen, autoritären Gesellschaft eingeboren, das Unbehagen an ihrer Kultur, wie es schon Bergmans Kino Jahrzehnte heimgesucht hat. Der Film kann in diesem Punkt die Essenz der Bücher bewahren, die bestürzend und grandios beides zusammenbringen, die politische mit der sexuellen Perversion, den Faschismus mit dem Sadismus.

Männer, die hassen . . . Der Vormund, der Lisbeth unter Kontrolle hat, nutzt seine Macht gnadenlos aus. Er trägt, selbst im modernen Internetzeitalter, noch die alten Insignien bürgerlicher Herrschaft. Die Regale hinter ihm sind mit ledernen Schinken gefüllt, sein Bart zieht eine Spur zu weit über die Lippe hinaus, die Brille ist eine Spur zu schmal, und das Haar wellt sich doch ein wenig zu stark in die Stirn.

Den großen epischen Atem, den der Roman entfaltet, kann der Film nicht durchhalten, dem horizontalen Drive, der Action, überlagert sich ein Sog in die Tiefe. Die weitläufigen Familiengeschichten sind nur rudimentär bewahrt, aber der Film beschwört die poetische Kraft der Erinnerung und ihres Hilfsmittels, der Fotografie. Der Moment, da man auf den Auslöser drückt, ist schon der Moment eines Verschwindens. Die Detektivgeschichte, der Kriminalroman sind Kinder des Zeitalters der technischen Reproduzierbarkeit.

Analphabetismus, die Zweite

"Hat nicht der Photograph - Nachfahr der Augurn und der Haruspexe - die Schuld auf seinen Bildern aufzudecken und den Schuldigen zu bezeichnen?", schrieb damals Walter Benjamin, in der Unfähigkeit mit Bildern umzugehen sah er den neuen Analphabetismus: "Aber muss nicht weniger als ein Analphabet ein Photograph gelten, der seine eigenen Bilder nicht lesen kann?"

Die Faszination des Auguren hat auch Stieg Larsson gespürt, Lisbeth muss eine Epiphanie für ihn gewesen sein, eine neue anarchische Kraft. Der Versuch, eine Reihe von ungeklärten Frauenmorden zu erforschen, führt sie zur Bibel und ihren Sprüchen zurück - ist nicht das die Sehnsucht aller Rechercheure, aller Hacker in der Datenflut? Der Blick eines Mädchens dringt über Jahrzehnte zu uns herüber. Die Bilder blicken zurück.

MÄN SOM HATAR KVINNOR, Schweden/Dänemark/D 2009 - Regie: Niels Arden Oplev. Buch: Nikolaj Arcel, Rasmus Heisterberg. Kamera: Eric Kress. Mit: Michael Nyqvist, Noomi Rapace, Lena Endre, Sven-Bertil Taube, Gunnel Lindblom. NFP, 152 Minuten.

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