Mit Blicken duelliert man sich in diesem Film, prüfenden und abschätzigen, verächtlichen und drohenden, aufreizenden und verführerischen. Es gilt dem Blick des Gegners standzuhalten, das Gegenüber selbst zu fixieren im Gegenzug. Immer wieder gibt es Momente der äußersten Konzentration, in denen die wirbelige Hektik der indischen urbanen Gesellschaft einfriert, die den Film am Laufen hält und die durch den aberwitzigen Hype drumherum die letzten Monate immer weiter gesteigert wurde - Begeisterung weltweit beim Publikum, eine gewaltige Zahl von Preisen: Golden Globes, Baftas, schließlich die acht Oscars im Februar. Momente, in denen einem der Atem stockt, so wie es in der Schule war, wenn man den Lehrer in seinem Notenbuch blättern sah und plötzlich der eigene Name fiel, fürs Abfragen vorn an der Tafel.
Dev Patel träumt als Jamal Malik in "Slumdog Millionär" von der ganz großen Kohle.
(Foto: Foto: ddp)Der junge Jamal (Dev Patel) ist in die Endrunde im TV-Spiel "Who Wants to Be a Millionaire?" gelangt, bei uns "Wer wird Millionär?", die Günther-Jauch-Show. Der Rahmen ist vertraut, aber der Drive ist anders - Indien auf dem Sprung zur Industriegesellschaft. Der Junge aus dem Slum von Mumbai weiß alle Antworten, obwohl er nie eine Schule besucht hat - das Leben hat sie ihn gelehrt, in all den Gefahren- und Krisenmomenten. Es ist ein Test für ihn, ein Verhör, eine Bewerbung und eine Werbung. Alle Augen sind auf ihn gerichtet, im Saal und draußen vor den TV-Geräten, vor allem die von Latika, dem Mädchen, dem er seit Jahren hinterher ist, seit seiner Kindheit.
Ihm direkt gegenüber Prem Kumar (Anil Kapoor), der Quizmaster, durchtriebener und gemeiner in der Wahl seiner Mittel als Jauch. Der Kandidat und der Showmaster, der wilde Underdog und sein Dompteur, das Model und sein Künstler, der Ketzer und der Inquisitor . . . Lauter Überlebensfragen, hier geht es, im Scheinwerferlicht, darum, eine Identität zu finden und sich zu bestätigen.
Der Moderator ist Gegner und Partner zugleich, und Jamal muss sich klar werden, ob er den Part des Gewinners oder des Losers spielen will. Adam und sein Schöpfer. Man traktiert Adam, modelliert ihn, und natürlich sind alle Mittel erlaubt. Am Abend vor der Entscheidung, der finalen 20-Millionen-Rupien-Frage (ein Euro entspricht etwa 68 Rupien) wird Jamal verhaftet und auf dem Polizeirevier hochnotpeinlich befragt - Verdacht auf Betrug! Man hängt ihn an den Armen auf, befestigt Klemmen an seinem schmächtigen Körper, jagt Elektroschocks hindurch. Ich habe das als Komödienszene inszeniert, erklärt Danny Boyle - aber das Publikum reagiert mit tödlichem Schweigen.
"Man muss um Genehmigung fragen, wenn man eine solche Szene auf einem Revier in Indien drehen will. Und das habe ich auch getan. Ich habe den Antwortbrief gesehen, der darauf kam - die Folterszene sei okay, hieß es da, solange die dabei Beteiligten nicht über den Rang eines Inspektors geraten. Das kam von der Regierung." Nur durch Schocks lernt man, das ist die Moral des Films, oder zumindest die Lektion, die Jamal lernen musste. Der Tod der Mutter vor seinen und seines Bruders Augen, in einem antimuslimischen Aufruhr. Der Terror des Bandenchefs des Viertels, der die Slumkinder kapert und als Bettler losschickt, und um den Mitleidsfaktor zu steigern, lässt er ihnen die Augen ausbrennen - natürlich kommt den angelsächsischen Kritikern da gleich Dickens in Erinnerung, Oliver Twist und die elende Fagin-Bande.