Im Kino: Orly:Gott gibt keine Interviews

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Bei den einen funkt es, die anderen haben gleich ein doppeltes Coming-out: In ihrem Flughafenfilm "Orly" schenkt Angela Schanelec den Passagieren Zeit.

Martina Knoben

Flughäfen sind, nach Marc Augé, Nicht-Orte par excellence: Schleusen im globalisierten Waren- und Menschentransportsystem, die, mit den immergleichen Modulen ausgestattet, gleichförmig und verwechselbar aussehen, wo Menschen aufeinandertreffen, ohne einander zu begegnen.

Das Gesicht in der Menge: Sabine (Maren Eggert) traut sich erst  auf dem Flughafen, den Abschiedsbrief ihres Mannes zu lesen. (Foto: Piffl)

"Orly" spielt fast ausschließlich im kleineren der beiden Pariser Großflughäfen, und eine große Faszination des Films besteht darin, zu sehen, wie Angela Schanelec mit den Widersprüchen dieses Ortes umgeht.

Orly Sud ist ja nicht irgendein Terminal. Wegen seiner Glasfassade und des hohen, luftigen Raums wurde der 1961 eröffnete Kasten auch das "Schaufenster Frankreichs" genannt - ein Nicht-Ort als nationale Vitrine!

Angela Schanelecs Wunsch, diesen lichtdurchfluteten Quader zu fotografieren, in dem die Menschen sich wie auf einer Bühne bewegen, war der Ausgangspunkt für ihren Film. Am Flughafen, der ja nur existiert, Menschen in Bewegung zu versetzen, beobachtet sie diese beim Warten, so ausdauernd, dass auch der Zuschauer ein Gefühl für die Zeit bekommt, die sie dabei - nein, nicht verlieren, sondern geschenkt bekommen.

Juliette (Natacha Régnier) und Vincent (Bruno Todeschini) zum Beispiel sitzen zufällig auf einer Bank nebeneinander, bevor sie in ihre Flieger nach Montreal bzw. San Francisco steigen. Ein Funke springt über zwischen den beiden, und so reden sie, als wäre es das Selbstverständlichste der Welt, über ihre Sehnsüchte und Momente des Scheiterns. Das Gegenlicht vor dem hohen Glasfenster unterstreicht die Intimität der Szene, der eigentlich öffentliche Raum wirkt privat wie ein Wohnzimmer. Und das Hin und Her der Reden lässt die beiden Dinge sagen, die ihnen noch gar nicht bewusst waren, die sie erst beim Sprechen entdecken.

Juliette wirkt weich und gesund wie ein Stück Butter; im Fluss der Rede begreift sie, dass sie Kanada und ihren Mann verlassen und wieder nach Paris ziehen wird. Ob sie Vincent wiedersieht? So etwas erfährt man in den Transit-Filmen von Angela Schanelec nicht.

Sie gehört zu den prominenteren Vertretern der "Berliner Schule", die vor einigen Jahren auf sich aufmerksam machte. Da gab es plötzlich wieder einen jungen deutschen Film, der spannend war, auch deshalb, weil er das Kinematographische ernst nahm, Formbewusstsein zeigte und ungewohnte Strenge. Mittlerweile hat das Label gewechselt, ist aus der "Berliner Schule" die "Nouvelle Vague Allemande" geworden - und bei keiner anderen Regisseurin, keinem Regisseur passt die Anknüpfung an die alte neue Welle der Franzosen so gut wie bei Angela Schanelec.

Aus dem Jazz der Menge

Mit ihrem Kameramann Reinhold Vorschneider hat Schanelec während des laufenden Flughafenbetriebes gedreht, mit starkem Teleobjektiv, und verbindet nun dokumentarisch gefundene Momente mit fiktiven Erzählungen: Drei Paare warten auf ihren Flug, eine Frau (Maren Eggert) traut sich erst in der Anonymität der Wartehalle, den Abschiedsbrief ihres Mannes zu lesen.

Das Teleobjektiv ist - wie oft im Kino - Mittel heimlicher Beobachtung. Aber es ist mehr als das, ist Lupe und Seziermesser, hält die Figuren mal auf Abstand, dann wieder saugt es sie heran. Und es macht die Leere um die Menschen sichtbar, wie auch das exquisite Licht im Terminal Sud. Ohne Reinhold Vorschneider, der bislang alle Filme Schanelecs fotografiert hat wie auch Arbeiten von Benjamin Heisenberg, Thomas Arslan oder Maria Speth, sähe die Nouvelle Vague Allemande nicht so schwebend und so französisch aus.

Mit der Kamera auf die Straße gehen, so hieß es einmal beim Aufbruch der Nouvelle Vague. Wo das Dokumentarische endet und die Fiktion beginnt, ist auch in "Orly" nicht zu erkennen. Wenn etwa ein junges Touristenpärchen (Jirka Zett und Lina Phyllis Falkner) darüber diskutiert, wie diskret er das Baby der Familie neben ihnen fotografieren soll, weiß der Zuschauer nicht, ob die Familie mit dem Kind nun zu den Schauspielern gehört oder nicht. Unter solchen Drehbedingungen kann es die übliche Kontrolle des Regisseurs über sein Material nicht geben, aber genau dieser Raum zwischen Kontrolle und Zufall hat Angela Schanelec gereizt: Vermutlich weil auch das Leben in diesem nur teilweise kontrollierbaren Raum stattfindet.

"Orly" löst Einzelne - inhaltlich, optisch und akustisch - aus der Totale des Flughafens heraus und stellt sie in den Fokus der Geschichte - allein die Tonmischung ist eine Herkules- und Meisterleistung. Aus dem Jazz der Menge rücken Stimmen in den Vordergrund, das richtige Verhältnis von Distanz und Nähe herzustellen ist, wie immer eigentlich, die große Kunst.

Neben Juliette, Vincent und den jungen Touristen, die beim Warten merken, dass sie einander nichts mehr zu sagen haben, beobachten wir eine Mutter (Mireille Perrier) und ihren Sohn (Emilie Berling), die auf dem Weg zur Beerdigung des Vaters sind. Der Ausnahmezustand lässt sie einander sagen, was sie noch nie jemandem erzählt haben, ein doppeltes Coming-Out, das den Abgrund der Fremdheit zwischen ihnen aber noch vertieft. "Orly" ist auch ein Film der Trennungen, der Distanz. Wer mag, kann darin den Nachhall persönlicher Trauer erkennen: Angela Schanelecs Lebenspartner, der Theaterregisseur Jürgen Gosch, war im vergangenen Jahr gestorben.

Von Gott ist kurz die Rede, aber er könne nicht eingreifen in die Geschicke der Menschen, heißt es, und gebe auch keine Interviews mehr. Da hilft die Souveränität der Regisseurin schon eher weiter, die in einem dramaturgischen Kraftakt den Flughafen stillstehen lässt und alle Passagiere zur Rückkehr zwingt. Nur weg von hier lautet ja eigentlich der Imperativ jedes Flughafens.

Dass Schanelec die Bewegung einfach einfriert und dann umkehrt ist eine wunderbare Unabhängigkeitserklärung.

ORLY, D/F 2010 - Regie, Buch: Angela Schanelec. Kamera: Reinhold Vorschneider. Schnitt: Mathilde Bonnefoy. Mit: Natacha Régnier, Bruno Todeschini, Mireille Perrier, Emile Berling, Jirka Zett, Maren Eggert. Piffl, 84Minuten.

© SZ vom 03.11.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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