Süddeutsche Zeitung

Im Kino: Nader und Simin - Eine Trennung:Spielball kafkaesker Kräfte

Bis keine Emotion mehr entweichen kann: Der Berlinale-Sieger von Asghar Farhadi besticht durch die Dichte seines Erzählgewebes. Präzise und facettenreich erzählt er ein Familiendrama, das unter den vielen Kleinproblemen fast nebenbei abläuft. Ein Ausnahmefilm über den lebensfeindlichen Ayatollah-Staat Iran.

Tobias Kniebe

Wie einfach es doch sein kann, auf den Punkt zu kommen. Ein Mann und eine Frau wollen sich scheiden lassen. Sie müssen sich vor dem Richter erklären. Da ist Simin, gespielt von Leila Hatami: ein graues Kopftuch locker über das hennarote Haar geworfen, unabhängig, willensstark, schön. Aber schön auf eine warmherzige, verantwortungsbewusste Art, die im Westen von Emma Thompson verkörpert wird oder früher von Ingrid Bergman. Eine No-Nonsense-Beauty könnte man sie nennen.

Neben ihr sitzt Nader, ihr Mann, gespielt von Peyman Moaadi. Ein Jedermann, der von Beginn an unter Druck steht. Es ist Simin, die ihn vor den Richter gebracht hat. Seine Männlichkeit ist in Frage gestellt, er ist genervt, aber auf eine irgendwie pragmatische, nicht allzu selbstmitleidige Weise. Untergründig spürt man Zähigkeit, Prinzipientreue, auch Pedanterie. Der junge Donald Sutherland hat solche Typen gespielt.

So beginnt ein Ausnahmefilm. Drei wichtige Bären auf der Berlinale im Februar, Gold für den besten Film und zweimal Silber, für das männliche und das weibliche Darstellerensemble - das gab es noch nie in der Geschichte des Festivals. Doch "Nader und Simin - Eine Trennung" ist kein typischer Festivalfilm, der im Kinoalltag und in seinem Herkunftsland dann später ignoriert würde - das zeigen 1,2 Millionen iranische Kinobesucher und mehr als doppelt so viele DVD-Nutzer. Dem Regisseur Asghar Farhadi gelingt damit ein Paradigmenwechsel, der nicht nur für das iranische Kino von Bedeutung ist. Aber dazu später.

Das Besondere an der fünfminütigen Eröffnungssequenz ist zunächst, dass man den Scheidungsichter nicht sieht. Man hört nur seine Stimme, nicht laut, aber doch von beiläufig schneidender Autorität, und blickt mit seinem Blick: leicht von oben herab. Besser als wortreiche Erklärungen zeigt diese Einstellung, worum es geht: Der Richter, das System - das ist der enge Rahmen, der diese Geschichte einfasst. Aber die Einladung an den Zuschauer ist hier, selbst eine Art Richter zu sein.

Es werden ihm gleich, überbordend, überlappend, leidenschaftliche Argumente präsentiert. Simin will das Land verlassen, damit ihre elfjährige Tochter eine bessere Zukunft hat. Die Visa gibt es schon, nach einigen Zahlungen und anderthalb Jahren Behördengängen, nun laufen sie in vierzig Tagen aus. Nader wollte das alles wohl auch einmal, aber jetzt hat sein Vater Alzheimer, und er sagt, dass er den alten Mann nicht allein lassen kann. Er würde Simin wohl ziehen lassen - nicht aber seine Tochter, die momentan sagt, dass sie bei ihm bleiben will. Und ohne ihre Tochter würde Simin nicht gehen ...

Auf die Frage, ob ihr Mann vielleicht drogensüchtig wäre, sie schlüge oder ihr das Haushaltsgeld verweigere, antwortet Simin nur: "Nichts dergleichen. Er ist ein guter, anständiger Mensch." Und auf die Frage, ob sein dementer Vater überhaupt wisse, dass es sein Sohn sei, der sich für ihn aufopfere, antwortet Nader nur: "Ich weiß, dass er mein Vater ist."

Was will man dazu sagen? Auch der Richter ist überfordert. Leise bedrohlich kommt nur die Nachfrage, welche "Umstände" Simin denn bitteschön meine, deretwegen sie so sicher sei, dass ihre Tochter hier keine Zukunft habe. Da senkt sie den Blick und antwortet nicht. Aber der Ayatollah-Staat hakt hier nicht nach. Jeder Iraner weiß, was gemeint ist. Und der Rest der Welt spürt es auch.

Mehr könnte Asghar Farhadi in diesem Moment auch gar nicht zeigen im aktuellen iranischen Zensursystem. Als der Filmemacher sich während der Produktion einmal zu klar für seine inhaftierten und ins Exil getriebenen Kollegen aussprach, wurden die Dreharbeiten von den Behörden eine Woche lang unterbrochen.

Der Richter im Film wischt den ganzen Fall schließlich als "unbedeutend" zur Seite, weist ihn zurück ins Private. Ein Schlüsselmoment - auch für die alte Frage nach Kunst und Diktatur: Kann im sogenannten Privaten noch große, auch politische Filmkunst entstehen, wenn man wie Simin den Blick senkt, der großen, notwendigen Konfrontation ausweicht? Oft würde man das, wie auch in diesem Fall, mit Ja beantworten.

Selbst Richter zu sein, das ist im Kino ja sonst nicht schwer. In Hollywood zumeist sogar zu schlicht für einen denkenden Menschen, zu offensichtlich sind Schuld und Unschuld, gute und böse Absicht verteilt. Hier ist das anders. Es ist schon erstaunlich, wie Nader und Simin und all die anderen sich quälen und peinigen, obwohl man keinem Protagonisten einen niedrigen Beweggrund unterstellen würde. Asghar Farhadi setzt sie ständig unter Druck: Wenn etwas schiefläuft im Moloch Teheran, wo die Menschen den Finger scheinbar immer auf der Autohupe haben, dann stets auf mehreren Ebenen gleichzeitig.

Zerrüttung, schon auf der Ebene des Alltags

Geldnot, Zeitnot, wechselweise auch Glaubensnot, Probleme der verletzten Ehre oder von der Tradition bestimmte Rollen, die niemand mehr ausfüllen kann - das alles zerrüttet seine Figuren schon auf der Ebene des Alltags, bevor größere Fragen überhaupt gestellt sind. Ein abstraktes Großproblem wie der lebensfeindliche Ayatollah-Staat spaltet sich so in unzählige Kleinprobleme auf: In tausend Gelegenheiten, einen Fehler zu machen, in die Grauzonen eines Verbots zu tappen, erpressbar zu werden, als Spielball kafkaesker Kräfte zu enden, die niemand mehr wirklich beherrscht. Was andererseits aber nicht bedeutet, dass man ständig ein Drama daraus machen kann. "All die Schwierigkeiten und Probleme in meiner Heimat," sagt Farhadi, "sind für mich ein alter Hut. Wir kennen es nicht anders, und natürlich gewöhnt man sich daran, so traurig das ist."

Wenn Simin in die weitläufige Familienwohnung kommt, um ihre Koffer zu packen und auszuziehen, läuft diese kleine Tragödie also fast nebenbei, weil so viel anderes dazwischendrängt. Die Möbelpacker feilschen um ihren Lohn, Simins elfjährige Tochter übt sich in stillem Protest. Sie wird bei Nader bleiben. Nader rasiert seinen hilflosen Vater und verhandelt gleichzeitig mit der schwarz verschleierten Razieh, die er als Pflegerin für den alten Mann engagieren will. Razieh jammert über den langen Anfahrtsweg und den zu geringen Lohn, verspricht dann aber, zu kommen. Der hilflose Alte krallt sich an ihrer Hand fest. Simin lügt, dass sie gleich zurück wäre - aber seine Hand muss trotzdem unsanft gelöst werden, damit sie gehen kann. Sie sagt leise adieu. Dann fällt, mit fast übertriebenem Scheppern, die Wohnungstür hinter ihr zu.

Zwischen Nader und Razieh (Sareh Bayat), die schwanger und überfordert und von ihrem Gewissen geplagt ist, weil sie die Arbeit ohne Einwilligung ihres Mannes macht, wird sich später der Hauptkonflikt des Films entwickeln. Das endet dann wieder vor Gericht und mit Schwüren auf den Koran. Razieh hat den Alten, der ihr anvertraut war, in großer Not allein gelassen, dabei aber festgebunden und so fast umgebracht. Nader hat sie, als sie hysterisch wurde, kurz die Beherrschung verloren und sie aus der Wohnung gestoßen. Im Treppenhaus ist sie gefallen, dann hatte sie ein Fehlgeburt - aber die detektivische Frage ist nun, ob Ursache und Wirkung hier wirklich zusammenhängen. Diese Frage entscheidet über Gefängnis oder Geldstrafe und wird alle in diesem Film zum Lügen treiben, zuletzt sogar die stille, elfjährige Termeh, gespielt von Farhadis eigener Tocher Sarina. Sie ist wunderbar inszeniert als das heimliche Zentrum des Films: eine Sehende, der kein Detail entgeht, auf der am Ende aber auch deshalb die volle Wucht der Entscheidung lastet. In diesem Moment hat der Zuschauer schon längst die moralischen Waffen gestreckt - und das angemaßte Richteramt hilf- und ratlos zurückgegeben.

Mehr kann eine solche Geschichte kaum erreichen - aber damit endet die Bedeutung dieses Films noch nicht. Was ihn wirklich heraushebt, ist die Dichte seines Erzählgewebes, die komprimierte Vielschichtigkeit seiner Inszenierung. Es gibt ja Kriterien für die Handwerkskunst des Erzählens: Wie wenige Details reichen aus, um vollständige Figuren auf die Leinwand zu tupfen? Wie viele davon mit ihren Zielen, Nöten und Motivationen packe ich in eine Szene, ohne eine einzige aus dem Blick zu verlieren oder nur Verwirrung zu stiften? Wie schließe ich die Löcher, die jede Geschichte hat, bis keine Emotion mehr entweichen kann und der innere Druck fast unerträglich wird? Der Wanderpokal der Erzähldichte, die Maßeinheit dafür könnte Schicksal mal Filmzeit pro Quadratmeter Leinwand lauten, lag zuletzt oft bei den Teams von amerikanischen Fernsehserien wie "E.R." oder "The Wire".

Die Gegenstrategie nicht nur der iranischen Filmkünstler war bisher eine Verweigerung. Um gleich klarzumachen, dass man in diesem gnadenlos schwierigen Spiel nicht mitspielen wollte, wurden die Geschichten symbolisch und philosophisch aufgeladen - aber gleichzeitig ausgedünnt, Figuren und Probleme reduziert. Manches Bild blieb fast endlos stehen - wie um all die hektischen Vergnügungssucher vor der Leinwand erst einmal einzutakten in den langsamen Herzschlag der Armut, der Unterentwicklung, des kargen aber erfüllten Lebens. Oder der Filmemacher führte einen so oft durch denselben Olivenhain, hin und her und wieder hin und wieder her, bis man jeden Grashalm zu kennen glaubte.

Auf dem Stand der avanciertesten Amerikaner

Seit ungefähr drei Filmen scheint Farhadi mit dieser Tradition, die zu ihrer Zeit bedeutsam und wichtig war, gebrochen zu habe. Seit "Fireworks Wednesday" (2006) und "About Elly" (2009) packt er iranische Klassen- und Familienverhältnisse, Geschlechterrollen und Rollenkonflikte, staatlichen und wirtschaftlichen Druck immer dichter, kraftvoller und schneller getaktet in seine Filme, mit zunehmendem Erfolg und zunehmender Könnerschaft. Mit "Nader und Simin" ist er nun in Sachen Erzähldichte auf dem Stand der avanciertesten Amerikaner angekommen. Und es ist atemberaubend zu sehen, was ein so präziser und facettenreicher Blick zu Tage bringt, wenn man ihn auf eine Gesellschaft wie die iranische richtet.

JODAEIYE NADER AZ SIMIN, Iran 2010 - Regie, Buch: Asghar Farhadi. Mit Peyman Moaadi, Leila Hatami, S. Bayat, Sarina Farhadi. Alamode, 123 Minuten.

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Quelle:
SZ vom 13.07.2011/cris
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