Im Kino: "Le refuge":Das ist die Zeit

Die schwangere Mousse entscheidet sich für ihr Kind, aber nicht aus purem Fortpflanzungsglück: François Ozon opfert in seinem Melodram die heilige Kuh der Mutterschaft.

Fritz Göttler

Ein junger Mann und eine junge Frau, Paul ist ein Backpacker, schwul, auf dem Weg nach Spanien zu seinem Freund, Mousse hat einen Schwangerschaftsbauch, hat eben ihren Freund verloren, Pauls Bruder. In einem schönen abgelegenen Haus am Meer leben sie ein paar Wochen gemeinsam. Ein alter Mann hat es ihr zur Verfügung gestellt, mit dem sie einst geschlafen hat.

Isabelle Carre, Louis-Ronan Choisy

Die schwangere Mousse will ihr Baby trotz widriger Umstände bekommen. Reine Muttergefühle sind dafür allerdings nicht ausschlaggebend.

(Foto: APN)

Eigentlich ist es eine Ménage-à-trois, denn neben Paul und Mousse ist als dritter immer Louis mit dabei, der tote Bruder, der an einer Überdosis Rauschgift starb. In einer kaltblauen Pariser Morgendämmerung hat er sich, hochgeschreckt aus der schläfrigen Benommenheit der nächtlichen Dosis, den tödlichen Schuss gesetzt, direkt in den Hals. Mit Mousse hat er die Nächte und Tage in einer großbürgerlichen Wohnung verbracht, die seiner Familie gehört, halbleer und unpersönlich, aber dennoch irgendwie Schutz und Zuflucht bietend. Die Todesstarre, in der man Louis findet, in quasi-embryonaler Haltung auf dem Boden kauernd - dieses Bild kann man den ganzen Film über nicht vergessen.

"Sie werden das Baby doch nicht behalten wollen", sagt Louis' Mutter mit rüder Selbstgewissheit, als sie Mousse, die den Drogenschlaf der Nacht überlebte, auf deren Schwangerschaft anspricht, "das ist sehr riskant für ein Baby, wenn es eine drogensüchtige Mutter hat ... In unserer Familie legen wir keinen Wert drauf, dass Louis Nachkommenschaft hat, wenn er nicht mehr unter uns weilt."

Das Baby als Faktor in einer kühlen rationalen Kalkulation, Element in einem simplen binären System, die eine will's, die andere will's nicht. Das Melodram, das von den großen Emotionen handelt, ist der Mathematik näher verwandt als jedes andere Kinogenre. Mousse wird das Baby behalten, weil es eine Verbindung bildet zum toten Louis. Mit Muttergefühlen, mit Mutterglück hat das sicher nichts zu tun. Melvil Poupaud, der den Louis spielt, war der todkranke Fotograf in Ozons "Die Zeit die bleibt", den Valeria Bruni-Tedeschi bat, ihr ein Kind zu machen.

Herumwerkeln am Mutterbild

Es steckt System dahinter, wie François Ozon in seinen Filmen die hehre, unantastbare Vorstellung der Gesellschaft von der Mutterschaft zersetzt, den Muttermythos, der so konstitutiv ist für unsere Gesellschaft. Er ist damit schon länger nicht mehr allein, auch Hollywood werkelt am Mutterbild herum, Jennifer Lopez und Jennifer Aniston experimentieren in ihren Komödien mit künstlicher Befruchtung, Oliver Stone lässt im neuen "Wall Street"-Film einen knallharten Banker weichkochen durch eine Aufnahme vom werdenden Leben in jungem Mutterbauch: "Das ist die Zeit ..."

Ich wollte schon immer einen Film machen mit einer schwangeren Frau, hat François Ozon bekannt, und Isabelle Carré hat diese Herausforderung schließlich angenommen, sie war etwa im sechsten Monat, als der Dreh begann. Sie ist genau das Schaum- und Mooswesen, das ihr Name suggeriert, man merkt, dass oft ihre Aufmerksamkeit nicht auf die Kamera konzentriert ist, dass nach Schauspielerei ihr Sinn nicht steht. Die Beziehung, die sie mit Paul entspinnt, hat etwas von einem Chanson, dahingeträllert und von Tag zu Tag ein wenig weiterentwickelt.

Jeder kennt das Verlangen, den Bauch einer schwangeren Frau zu berühren, sagt Ozon. Bei einem ihrer Streifzüge am Strand wird Mousse von einer fremden Frau angesprochen, auch die will ihren Bauch berühren. Sie ist erregt und emphatisch, die große Verführerin, die als mütterliche Aufgabe das Leiden anspricht. Die pathologische Version der Mutterschaft, religiös fundiert, das Pietà- Phantasma von Mutter und Sohn. Für Sekunden ist eine erschreckende Hitzigkeit in diesen schönen gelassenen Film gekommen. Die wirklichen, die reinen Emotionen, das lehren die Filme von Ozon, sind ohne Zurückhaltung, ohne Abstraktion nicht zu haben.

LE REFUGE, F 2010 - Regie: François Ozon. Buch: François Ozon, Mathieu Hipeau. Kamera: Mathias Raaflaub. Ton: Brigittte Taillandier. Schnitt: Muriel Breton. Mit: Isabelle Carré, Louis-Ronan Choisy, Pierre Louis-Calixte, Melvil Poupaud, Claire Vernet. Arsenal, 88 Min.

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