Gleich werden Sie aufwachen. Achten Sie auf das Geräusch des Fingerschnippens. Jetzt.
Sie sind zuhause. Ihr Schlafzimmer sieht aus wie jeden Morgen. Alles normal, das zerknautschte Gesicht im Spiegel, der vertraute Geschmack der Zahnpasta, der Geruch in der Küche. Woher aber kommt diese Vorahnung, diese nervöse Spannung, dieses heftige Herzklopfen, dieses ungewöhnliche milde Licht? Hier stimmt doch etwas nicht.
Vor Ihrer Wohnungstür liegt die Süddeutsche. Sie heben sie auf, Sie öffnen sie in der Mitte, Sie beginnen zu lesen. Diesen Text. Aber die Worte die Worte entziehen entziehen sich auf seltsame seltsame seltsame ... egal.
Plötzlich steht da Leonardo DiCaprio. Kein Zweifel. "Sorry", sagt er höflich. "Dies ist nur ein Traum in einem Traum. Bitte erschrecken Sie nicht."
Gemeinsam träumen
Ungefähr so, wenn überhaupt, kann man das Gefühl beschreiben, in Christopher Nolans Film Inception einzutauchen. Zusätzlich zu den Dingen, die das Kino sowieso schon mit dem wachen Bewusstsein anstellt, wenn man sich für zwei Stunden ins Dunkel begibt und der Vision eines fremden Menschen anvertraut, pflanzt dieser Film noch ein paar herrlich verwirrende Ideen in den Kopf des Zuschauers ein.
Ist nicht jede Geschichte auf der Leinwand, in der man sich verlieren kann, ein luzider Traum? Ist nicht jeder Moment, in dem ein guter Film seine Augen aufschlägt, eine Art falsches Erwachen?
Leonardo DiCaprio spielt hier einen Mann namens Cobb, der davon lebt, in die Träume anderer Menschen einzusteigen. Oder halt, schon das ist nicht ganz richtig. Er entwirft Träume, dafür hat er sein eigenes kleines Team von Traumdesignern, und dann gibt er seinen Opfern, sich selbst und seinen Mitarbeitern ein starkes Schlafmittel. Die Gehirne aller Beteiligten werden zusammengeschlossen, ganz real, mit einem seltsamen Gerät und ein paar Gummischläuchen. Dann wird gemeinsam geträumt.
Der "Matrix"-Verdacht
Leonardo DiCaprio kann also nicht einfach von Ferne in Ihren Kopf einsteigen. Das ist die gute Nachricht. Andererseits wissen Sie nicht, ob Sie nicht schon ziemlich lange betäubt neben ihm liegen, durch einen Schlauch mit seinem Gehirn verbunden, und Ihr ganzes sogenanntes Leben nur ein ziemlich langweiliger Traum ist, den DiCaprio für Sie träumt. Das wäre der "Matrix"-Verdacht.
Klar ist aber, dass DiCaprio ein Profi ist. Weil seine Auftraggeber an wertvolle Geheimnisse herankommen wollen, die nur im Hirn des Opfers gespeichert sind - und nirgendwo sonst. Extraction nennt er das. DiCaprio und sein Team bauen dafür zum Beispiel einen Traumsafe, und weil man als Opfer gar nicht anders kann, als diese fremdfabrizierten Träume mit seinen Projektionen anzufüllen, wird man seine Geheimnisse ganz spontan in diesen Safe legen. Bingo - dort können sie dann gestohlen werden. Bevor alle wieder aufwachen.
All das ist wichtig für den Film. Aber dann geht es doch nicht darum, den perfekt gesicherten Tresor aus Ocean's Eleven einfach ins Innnere des menschlichen Geistes zu verlegen - für eine somnambule Variante des traditionsreichen Heist-Movies. Denn der japanische Konzernchef, der DiCaprio und sein Team anheuert, will mehr. Er will seinem schärfsten Konkurrenten auf dem Markt der globalen Energieversorgung keine gute Idee stehlen - sondern eine neue, schlechte Idee ins Hirn einpflanzen lassen. Eine Idee, die dessen Geschäft kaputtmacht. Nicht Extraction, sondern Inception.
Inception ist ein schönes, wenig benutztes Wort der englischen Sprache. Es heißt eigentlich nur Anfang, Beginn, Gründung. Aber für Christopher Nolans Zwecke schwingt viel mehr darin mit - durchaus auch Sexuelles, der Gedanke der Empfängnis zum Beispiel. Um Inception zu verhindern, bräuchte man eigentlich Contraception: Ideenempfängnisverhütung.
"Titanic"-Traumpaar neu vereint:Kate winselt
Zwölf Jahre nach "Titanic" können Kate Winslet und Leonardo DiCaprio immer noch nicht voneinander lassen: Eine unendliche Liebesgeschichte in Bildern.
Der Film hat einen Heidenrespekt vor der Macht der Ideen. "Ideen sind wie Parasiten", sagt Leonardo DiCaprio einmal. "Die hartnäckigsten Parasiten, die es gibt. Wenn sich eine Idee einmal im Gehirn eingenistet hat, kann man sie nie wieder völlig auslöschen." Ein Sommer-Blockbuster aus Hollywood, der dem Geist einen solchen Stellenwert einräumt, ist im üblichen Dumpfbackenkommerz des Mainstreams schon mal eine Besonderheit. Das erklärt einen Teil des intellektuellen Hypes um diesen Film. Aber noch längst nicht alles.
Bitte möglichst ödipal
DiCaprio und seine Leute haben mit Ideen-Implantaten kaum Erfahrung, aber das Angebot ist zu gut, um es auszuschlagen. Sie könnten bei Machiavelli nachschlagen oder bei Shakespeares Jago, es gibt da erprobte Methoden, die vor allem auf das manipulative Gespräch vertrauen. Darauf kommen sie aber nicht, schließlich sind sie Techniker des Unbewussten. Genau wie Christopher Nolan ein Techniker ist, der mit Vorliebe an der menschlichen Ideengeschichte herumschraubt, auch schon bei Memento oder The Dark Knight. Außerdem braucht so ein Sommer-Blockbuster, nebenbei gesagt, ein paar technische Schauwerte.
Erste Erkenntnis: Die Idee muss auf ihren simpelsten Kern reduziert werden, sonst kann sie im Hirn keine Wurzeln schlagen. Zweitens: Sie muss emotional aufgeladen werden, sonst wird das Opfer sie sofort wieder vergessen. Drittens: Also bitte möglichst ursprünglich, primal, ödipal. Hat das vorgesehene Opfer, der junge Konzernerbe Robert Fischer (Cillian Murphy) vielleicht einen ungelösten Vaterkonflikt? Hat er. Schon steht ein Plan. Auf einem Zehn-Stunden-Flug von Sydney nach New York wird er betäubt und an die Hirne des Inception-Teams angeschlossen.
Aber es ist dann doch höllisch kompliziert, technisch auf jene Ebene des Unbewussten herunterzukommen, wo Ideen geboren werden. Wenn man die sogenannte Realität einmal als Level eins bezeichnet, gibt es einen Traum auf Level zwei, einen Traum im Traum auf Level drei, einen Traum im Traum im Traum auf Level vier - und wenn man in einem actionreichen Level stirbt, stürzt man in ein fünftes Level des Unbewussten ab, aus dem es vielleicht keine Rückkehr mehr gibt.
Action-Regisseure zählen keine Schafe
Es nennt sich Limbo, zu deutsch: Vorhölle. Auf all diesen Level wird viel geballert. Action-Regisseure zählen beim Einschlafen eben keine Schafe, sondern Einschusslöcher. Trotzdem kann man die verschiedenen Ebenen unterscheiden: Es gibt eine dreckige, urban verregnete Michael-Mann-Ballerei, eine Stanley-Kubrick-Ballerei in der Schwerelosigkeit, eine James-Bond-Ballerei um eine Betonfestung im Schnee.
Die größte Schwäche von "Inception" ist, dass diese videospielartigen Actionlevel zwar den Massenerfolg garantieren, aber praktisch nichts mit dem zentralen Problem zu tun haben, einem Menschen eine Idee einzupflanzen - und dass der Film aus dieser Videospiel-Verschachtelung nicht mehr recht herausfindet. Die größte Stärke des Films aber ist es zugleich, dass er dabei auch nie wieder richtig aufwacht.
In der Vorhölle des Unbewussten hat DiCaprio nämlich seine verstorbene Frau (Marion Cotillard) getroffen, die ihn in seinen und sogar in fremden Träumen verfolgt. Und in seinen Erinnerungen. Dazwischen gibt es für ihn keine klare Grenze mehr, was für einen professionellen Träumer sehr gefährlich sein kann. Diese tolle Frau würde ihn gerne dort unten behalten, wo alles noch in Ordnung ist, wo er seine Welt ganz nach den eigenen Wünschen gestalten könnte.
Alles möglich, nichts erlaubt
Aber DiCaprio ist keinen Moment lang verführt. Er durchquert Universen voll unendlicher Angebote und Möglichkeiten, aber er ist immer ganz Geschäftsmann, ganz Planerfüller und Protestant. Einmal probiert seine beste Traumdesignerin aus, nur so zum Spaß, wie es wäre, die Stadt Paris in der Mitte zu falten - aber während den Zuschauern dabei fast die Augen übergehen, weist er sie an, solchen Unsinn in Zukunft zu lassen, es würde nur die Opfer verstören.
Ist das eine Analogie zum aktuellen Hollywood und seinen professionellen Träumern - wo erstmals in der Geschichte tricktechnisch alles möglich, aber gedanklich kaum noch etwas erlaubt ist? Es könnte ja die Opfer, sprich Zuschauer, verstören. Denn die wollen ja, egal wie tief sie träumen, doch immer nur wieder ihre altbekannten, liebgewonnenen Videospiel-Level vorgesetzt bekommen. Angeblich.
Man kann das aber auch anders sehen - eine Möglichkeit, die Christopher Nolan bewusst offen lässt. Wer nämlich, wie Leonardo DiCaprio, so viele Traumwelten geschaffen hat, ohne je Freiheit darin zu finden, wer vor dem Unvorstellbaren stand und doch immer nur das Vorstellbare wollte, die Heimkehr nach Amerika, das Haus im Grünen, den Kindern im Garten beim Spielen zuschauen - schläft der noch, oder lebt der schon?
Es gibt kein richtiges Leben im falschen Erwachen. Achten Sie auf das Geräusch des Fingerschnippens. Jetzt.
INCEPTION, USA 2010 - Regie, Regie: Christopher Nolan. Kamera: Wally Pfister. Schnitt: Lee Smith. Mit: Leonardo DiCaprio, Joseph Gordon-Levitt, Ellen Page, Ken Watanabe, Tom Hardy, Cillian Murphy, Marion Cotillard, Sir Michael Caine. Warner, 148 Minuten.