Ist ein Goethe-Film, in dem kein einziges der tragenden Handlungselemente mit der gut bekannten historischen Wirklichkeit übereinstimmt, noch ein Film über Goethe? Zunächst ein paar Fakten. Goethe war kein Studienversager. Seine erste juristische Doktorarbeit wurde in Straßburg nicht wegen Unzulänglichkeit abgelehnt, sondern höchstwahrscheinlich (der Text ist verloren) wegen überkühner religionskritischer Behauptungen. Doch eröffnete man dem Hochbegabten, dem alles leicht fiel, daraufhin die Möglichkeit, durch die Verteidigung einiger Thesen das Lizentiat zu erwerben, was "cum applausu", mit Bestnote, gelang.
Goethe hat im Sommer 1772 keine nachweisbare juristische Tätigkeit am Reichskammergericht in Wetzlar ausgeübt; als er an dieser Station einer juristischen Kavalierstour eintraf - man lernte in Wetzlar den Elitenachwuchs des Alten Reichs kennen -, standen die Gerichtsferien dieser durch eine Visitation Josephs II. ohnehin lahmgelegten Reichsbehörde bevor. In seinen Wetzlarer Monaten befasste sich Goethe mit Homer und Pindar und schrieb Rezensionen für die Frankfurter Gelehrten Anzeigen.
Deshalb war Johann Christian Kestner, der der Amtsmannstocher Charlotte Buff seit 1768 versprochen war, auch nicht Vorgesetzter Goethes. Kestner und Lotte lernten Goethe bei den zahlreichen Wetzlarer Geselligkeiten kennen. Es war also - womit wir uns dem Handlungskern dieses grellen Rührstücks nähern - auch keineswegs so, dass Kestner die schöne, leichtlebige und lebenskluge Lotte Goethe vor der Nase weggeschnappt hätte; vielmehr hat Kestner, der die hochaufflammende Neigung des sonderbaren neuen Freundes für seine Braut voller Schmerzen wahrnahm, sogar überlegt, zurückzutreten und Lotte Goethe zu überlassen. Doch davon wollte diese nichts wissen, zumal Goethe und Lotte natürlich auch nie Sex hatten, schon gar nicht in einer Burgruine bei Regen.
Es kann auch gar keine Rede davon sein, dass der unglücklich verliebte, von religiösen Zweifeln geplagte Carl Wilhelm Jerusalem, ein Kollege Kestners als Gesandter am Gericht, sich in Gegenwart Goethes erschossen hätte; Goethe kannte Jerusalem nur flüchtig. Der Umstand, dass dieser sich für seinen Suizid Pistolen von Kestner ausgeliehen hatte, rückte das grausige Geschehen dem EmpfinDer Film "Goethe!" baut ein konventionelles Eifersuchts- und Läuterungsdrama auf, das in die kunstförderliche Entsagung des Mädchens (es sieht, dass dieser Mann ihr zu hoch ist) mündet und das kaum jemanden interessieren würde, wenn nicht der Name Goethe darüber stünde.dsamen nahe genug. Und natürlich war der Text der "Leiden des jungen Werthers" kein langer Brief zum kurzen Abschied Goethes an Lotte, den diese dann zum Druck gebracht hätte, weil Goethe selbst ja nicht an sein Genie glaubte. Der "Werther", in den Erfahrungen Goethes mit mindestens drei verschiedenen Mädchen eingingen, entstand anderthalb Jahre nach der Wetzlarer Zeit.
Das nur zur gröbsten Berichtigung. Es geht dabei ja nicht um Einzelheiten. Der Film "Goethe!" baut ein konventionelles Eifersuchts- und Läuterungsdrama auf, das in die kunstförderliche Entsagung des Mädchens (es sieht, dass dieser Mann ihr zu hoch ist) mündet und das kaum jemanden interessieren würde, wenn nicht der Name Goethe darüber stünde.
Im Abspann winkt der Film hinüber zu der einen nennenswerten Fiktionalisierung, die es zu Goethes beispiellos reich dokumentiertem Leben überhaupt gibt, zu Thomas Manns Roman "Lotte in Weimar": Nur einmal in ihrem Leben habe Lotte Goethe wiedergesehen. Doch Thomas Mann hat eben in seinem ingeniösen Konstrukt außer der Erzählsituation - Lotte, die 1816 nach Weimar zu Verwandten reist, erhält eine Serie von Besuchen im Hotel, die sie über ihre alten Verehrer unterrichten - so gut wie nichts erfunden. Der Stoff dieses unvergleichlichen Lebens ist viel, viel reizvoller als alle Dramatisierungen; vor allem braucht er keine Geschmacksverstärker.
Natürlich weiß der begabte Regisseur, der Philipp Stölzl ist - sein knalliger "Rienzi" an der Berliner Staatsoper war ein Vergnügen -, was er tut. Am Ende lässt er Lotte sagen, dies alles sei "mehr als Wahrheit", nämlich Dichtung. Und immer wieder verrät das Drehbuch auch mehr als oberflächliche Goethe-Vertrautheit: Die blaugelbe Werther-Kleidung führt zu einem kurzen, die "Farbenlehre" vorwegnehmenden Exkurs; der nach der Verlobungsfeier von Kestner und Lotte sich in einem Volksfest besaufende Goethe sieht im Gewühl ein Puppenspiel mit dem "Faust"; schon zuvor hatte er Jerusalem, der eine Dame auf der Straße anreden will, Fausts erste Worte an Gretchen souffliert ("darf ich's wagen ..."). Und als Vater Goethe seinen Sohn, der nach einem Duell mit Kestner im Kerker sitzt - auch das freie Erfindung -, nach Hause holt, sagt er ihm: "Ein unnütz Leben ist ein früher Tod." Der Teil des Publikums, an den dieser Film unmöglich adressiert sein kann, nickt besinnlich und murmelt "Iphigenie auf Tauris".
Und es ist ja nicht so, dass man von einem solchen Unternehmen Buchstabentreue verlangen müsste. Allerdings hat es historische Fiktion, die sich den gut überlieferten Hauptfiguren widmet, immer unendlich viel schwerer als Geschichtserfindungen, die von durchschnittlichen Unbekannten ausgehen und das historisch Bekannte von der Seite beleuchten und vor allem vergangene Zustände veranschaulichen; aber, klar, man darf auch Bekanntes zuspitzen und übersetzen, warum nicht.
Eine einzige solche Übersetzung ist Stölzl gut gelungen: Lotte ist vernarrt in Lessings Drama "Emilia Galotti", das Stück, in dem einem Mädchen ein verpfuschtes Leben droht. Während Kestner Lotte mit einem von Goethe geliehenen Verslein ungeschickt umwirbt (überzeugend unsexy: Moritz Bleibtreu), bastelt Goethe ihr ein Papiertheater mit Figurinen der "Emilia". Und in diesem Dingsymbol fließt alles Mögliche zusammen: Die Theaterleidenschaft der Sturm-und-Drang-Zeit, überhaupt Goethes theatralische Sendung, seine spätere Rolle als Theater-Direktor. Dieser Einfall hat etwas Magisches.
Und natürlich zeigt sich Alexander Fehling, der Goethe zwar nicht ähnlich sieht, aber ein schöner Mann ist, anfallsweise als beeindruckender Sprecher Goethescher Verse; dass es ein Sesenheimer Gedicht ist, das nach Wetzlar verpflanzt wird, ist völlig in Ordnung. "Es schlug mein Herz. Geschwind zu Pferde": Wenn man etwas ganz Gutes über diesen Film sagen wollte, könnte man ihm zugestehen, dass er mit der absichtsvollen Unruhe seiner Machart diesen Herzschlag über anderthalb Stunden ausdehnt.
Wetzlars berüchtigte düster-schmutzige Enge wird so nachdrücklich in Szene gesetzt, dass die weiten Landschaften, durch die Goethe immer wieder reitet, etwas von dem Befreiungsmoment der deutschen Literatur um 1770, das noch im Osterspaziergang im "Faust" klingt, erfahren lässt.
Schlimm aber ist die Verspießerung des Stoffs in der Ökonomie der Gefühle: Liebesunglück lässt den Bummelstudenten zum Erfolgsautor werden. Und auch Goethe war jung. Am Ende trifft der Dichter mit der Kutsche des Vaters in Frankfurt ein, wo das in "Werther"-Mode gekleidete Publikum schon die Buchläden stürmt. Als Goethe erkannt wird, skandiert es "Johann, Johann". Der Schmerz hat sich gelohnt, ein Star ist geboren. Der "Werther", dieses Buch einer unheilbaren Krankheit zum Tode, bekommt ein gutes Ende. Und wir erhalten einen Goethe für den Gabentisch, der mit diesem Dichter und seinem Roman ungefähr soviel zu tun hat wie Jules Massenets Oper "Werther". Schon das ist hochgegriffen.
GOETHE!, D 2010 - Regie: Philipp Stölzl. Buch: Philipp Stölzl, Christoph Müller, Alexander Dydyna. Kamera: Kolja Brandt. Mit: Alexander Fehling, Miriam Stein, Moritz Bleibtreu, Volker Bruch, Burghart Klaußner, Henry Hübchen. Warner, 99 Minuten.