Süddeutsche Zeitung

Im Kino: Forgetting Dad:Der fremde Vater

Amnesie oder Flucht aus einem unerträglichen Leben? Ein Dokumentarfilm zeigt die Tragödie einer Familie, deren Vater bei einem Autounfall sein Gedächtnis verliert.

Martina Knoben

Der Mann ist 46, aber er scheint das Gemüt eines höchstens fünfjährigen Kindes zu haben. Blond ist er und blauäugig und strahlt in die Kamera: "Du musst Richard sein", begrüßt er seinen Sohn, dem er vor einigen Wochen zum College-Abschluss gratulierte. "Deine Mutter hat mir ein Bild von dir gezeigt."

Ein Fall von Amnesie? Oder die grausame Flucht aus einem als unerträglich empfundenen Leben? Rick Minnich rekonstruiert die Tragödie seiner Familie, der der Vater plötzlich abhandenkommt, als dieser nach einem scheinbar harmlosen Autounfall für immer sein Gedächtnis verliert. "Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder, so werdet ihr das Himmelreich nicht empfangen", heißt es in der Bibel. Richard Minnich, der sich nach dem Unfall "New Richard" nannte, der Neue Richard, hat die Erlösungsformel womöglich wörtlich genommen.

Das Leiden am wechselweise tyrannischen, abwesenden oder verbrecherischen Vater hat die Kunst des 20. Jahrhunderts wie kaum ein anderes Thema geprägt. Der Vater, das ist die Identität, das Erbe - kein Wunder, dass im Jahrhundert nach Freud und Darwin, dem Jahrhundert, das Stalin und Hitler hervorbrachte, die Vaterfigur ins Zentrum künstlerischer Auseinandersetzung geriet. Rick Minnich fügt diesen Kämpfen sein brillantes postmodernes Vater-Spiel an. Der Filmtitel "Forgetting Dad" ist programmatisch-doppeldeutig: Der vergessende Vater ist gemeint, gleichzeitig aber auch der Prozess, den Vater - endlich - vergessen zu können.

Erlösung durch Verstehen, das ist das Muster, nach dem Dokumentarfilme, die sich mit Vätern oder Übervätern befassen, gewöhnlich funktionieren.

Auch Rick Minnichs Film sieht über weite Strecken nach einem solchen Versöhnungsprojekt aus. Mit Hilfe alter Familienfilme und -fotografien und zahlreicher Zeugenaussagen der beiden Ex-Frauen seines Vaters, von Halb- und Stiefbrüdern, seiner beiden Schwestern und anderer Verwandte versucht Minnich, das Puzzle zusammenzusetzen, das sein Vater für ihn darstellte. Die versuchte Annäherung, bei der auch der Vater selbst nach dem Unfall in seiner ganzen Hilflosigkeit und kindlichen Unschuld zu Wort kommt, scheitert jedoch, mündet in eine kriminalistisch anmutende Recherche, als der Filmemacher einen Vater entdeckt, den er nicht kannte. Der Alte Richard war vor seinem Unfall in einen seltsamen Bankenskandal verwickelt, er hatte seinen Job verloren, allerlei Frauengeschichten und benahm sich jähzornig gegenüber seinen Kindern. Und er war ein unsteter Geist, schon vor dem Unfall. Bis zum Ende seiner Grundschulzeit, erzählt der Filmemacher, sei die Familie 14 Mal umgezogen.

Vertraute Strukturen lösen sich auf

Die Spurensuche entwickelt beträchtliche Spannung. Hat sich der Vater nach dem Unfall auf radikale Art neu erfunden, als er sein altes Leben einfach vergaß, weil er es vergessen wollte? Minnich, der nicht nur den Namen seines Vaters trägt, sondern ihm auch erschreckend ähnlich sieht, ihn also eingeschrieben trägt als unausweichliches Erbe, geht über die Erforschung der eigenen Biografie noch hinaus, wenn er das Modellierende der Erinnerung, ihr kreatives Potential thematisiert. Der Film ist dafür genau das richtige Medium, mit seiner Illusion, Erinnerungen unbeteiligt konservieren zu können. Minnich schaut sich solche Dokumente genau an, in Zeitlupe, und indem er das Material bis zur Grobkörnigkeit vergrößert. Was ist auf den Bildern - die Familie am Strand, der Vater mit seinem Enkel im Garten Blumen gießend - wirklich zu erkennen?

Die Spurensuche wird zu einer äußerst eigenartigen Amerikareise, mit zunehmend surreal anmutenden Bildern. Von San Francisco bis ins hinterste Oregon führt diese Reise, schon Minnichs erster abendfüllender Dokumentarfilm "Homemade Hillbilly Jam", 2005, war ein schräges Amerikaporträt. Zur geografischen Durchquerung kommt bei "Forgetting Dad" die soziale Erkundung des Landes, die Stief- und Halbgeschwister kommen aus diversen sozialen Schichten, vom drogenabhängigen Koch und Dichter - sein Halbbruder Justin - bis zum Proll - sein Stiefbruder Steve - , der gegen den Vater pöbelt. Begleitet wird diese Reise, die ja auch eine Zeitreise ist, in die Welt von Super-8-Aufnahmen und Sixties-Optimismus, von verträumter Märchenmusik.

So lösen sich die vertrauten Strukturen auf, in der Körnigkeit der alten Bilder, der Verlangsamung der Zeitlupe oder im Weiß - der Amnesie, der Krankenhäuser und Arztpraxen - , in das Minnich immer wieder auf- und abblendet. Es sind bezeichnenderweise die Männer in der Familie, die dem Phantom, das der Vater geworden ist, fast zwanzig Jahre nach dem Unfall immer noch hinterherjagen, während die Frauen den Alten Richard gehen lassen können.

Mit seiner neuen, dritten Frau ist dieser fremde Vater weit weg nach Oregon gezogen. Sie hatte ihn kennengelernt, als er Zeitungen austrug, wie ein halbwüchsiger Junge. Danach ist er nur noch hinter einer Maske zu sehen und verschwindet schließlich ganz aus dem Geschehen. Statt vieler Puzzleteile, die endlich ein Bild ergeben, findet der Filmemacher - nichts. Zusammen mit seinem eigenen Sohn wühlt er in alten Familienbildern, lässt die Kiste am Ende aber einfach stehen.

FORGETTING DAD, D 2008 - Regie, Buch, Ton, Schnitt: Rick Minnich, Matt Sweetwood. Kamera: Matt Sweetwood, Markus Winterbauer, Doug Hawes-Davis, R. Minnich. Musik: Ari Benjamin Meyers. W-Film, 84Minuten.

Außerdem laufen an:

Bedways, von RP Kahl

Brand Upon the Brain!, von Guy Maddin

Diamantenhochzeit, v. Michael Kupczyk

Königin im Ring, von Simone Jung

mein, von Detlef Bothe

Repo Men, von Miguel Sapochnik

Splice - Das Genexperiment, von Vincenzo Natali

Streetdance 3D, von Max Giwa, Dania Pasquini

The Age of Stupid - Warum tun wir nichts?, von Franny Armstrong

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SZ vom 02.06.2010/kar
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