Im Kino: "Findet Nemo":Frische Fische pixelt Pixar

Ja, so könnte sie aussehen: Die Zukunft des Zeichentrickfilms. Das Pixar-Studio revolutioniert die Moral des filmischen Erzählens und haucht sogar Fischen einen Charakter, Humor und Espirit ein.

Von Fritz Göttler

Das Böse kommt mit schrillen Tönen in diesem Film, mit einem seit Jahrzehnten vertrauten Furioso, bei dem es uns dennoch immer wieder kalt den Rücken runterläuft. Die Tür der Praxis schwingt auf, das Zahnarzttöchterchen stolziert herein, untermalt von den kreischenden Streichern der "Psycho"-Duschmord-Sequenz. Das ist - der Horror, der Horror! - der Wendepunkt, die ultimative Schrecksekunde in einem fürwahr nicht gerade sanften Abenteuerfilm aus der magischen Welt unter Wasser. ("Psycho" scheint neuerdings im Zeichenfilm angesagt, in zwei Wochen kommen die fetzigen Streicher schon wieder zum Einsatz, wenn Bugs Bunny eine Variante des Duschmords inszeniert in "Looney Tunes: Back in Action".)

nemo

Vor Darla mit ihrer Duschmord-Aura muss der kleine Clownfisch Nemo gerettet werden - darauf bezieht sich die titelgebende Parole: Findet Nemo. Darlas grausamer Umgang mit den Bewohnern des väterlichen Aquariums ist berüchtigt, sie beutelt sie so lange, bis sie alle Flossen von sich strecken. Auch Nemo - bei ihm ist eine der Bauchflossen kürzer geraten als die andere - ist in diesem Aquarium gelandet, und er hat das drohende Schicksal täglich vor Augen. Durch die Glasscheiben blickt er auf ein Bild des kleinen Monsters - mit schiefem bösem Blick und Zahnspange -, und nur der rasche Schwenk aufs Fenster kann ein wenig Trost bieten, durch das die Skyline der Stadt Sydney zu sehen ist und der weite Ozean.

Dort ist die Heimat dieses modernen, dieses fischigen Little Nemo, dort lebt er mit seinem verwitweten Vater Marlin, in einer bunten Seeanemone, im Schutz des Great Barrier Reef. Nemo ist Marlins ganzes Glück, ein Einzelkind - seine vierhundert potentiellen Geschwister und seine Mutter haben eine Hai-Attacke nicht überlebt. Ein Einzelkind, ein überprotektiver Vater - das ist eine erprobte Konstellation in amerikanischen Familienkomödien. Der Ozean ist gefährlich, mahnt der Vater, und tut das so oft, dass Nemo einfach rebellieren muss gegen so intensive Fürsorge. Ich hasse dich, schleudert er dem Vater entgegen, er verlässt trotzig den Schulhof, die geschützte Zone und wird prompt von einem Taucher gekascht und zum Dentisten verfrachtet. Nun muss der ruhebedürftige Marlin hinaus, auf eine Kino-Reise durch die Weite des Ozeans, die eine Mischung aus Magie und Schauder entfaltet wie schon lange kein Film mehr.

Der Film war der große US-Kassenerfolg des Sommers, der große Triumph für das Pixar-Studio und seine Technik des computergenerierten Zeichenfilms. Er hat viele großen Actionspektakel wie lahme Enten aussehen lassen und hat sich, mit über 330 Millionen Dollar Einspiel in Amerika, an die Spitze der Zeichentrick-Bestenliste gesetzt, vor Disneys "König der Löwen". An Disneys Bambi haben die Animatoren von Nemo sich am stärksten orientiert - auch sie sind traurig über die Krise des zweidimensionalen Zeichenfilms, weil sie ihre Arbeit nicht als Konkurrenz sehen, sondern als Fortführung. Aber seit dem Desaster von "Sinbad", dem aufwändigen 2D-Zeichenfilm des Sommers, haben die anderen Studios ihre Projekte erst mal abgesagt. Disney ist ein Mythos, die Animationszukunft gehört Apple und Pixar.

"Findet Nemo" zeigt, worin diese Zukunft bestehen wird - es ist ein Trip, der durch seine totale Schwerelosigkeit verzaubert, die der Gestaltung und der Animation, aber auch die des Erzählens. Die Pixar-Story gehört zu den großen Hollywood-Erfolgsgeschichten der vergangenen Dekade, eine Mischung aus kühler Berechnung und jugendlichem Erfindungsgeist, die sich in jedem der bisherigen großen Filme gesteigert hat - "Toy Story", "Antz" und "Monster AG".

Für ihre Unterwasser-Show haben die alten Hasen in Emoryville, Kalifornien - John Lasseter, Ed Catmull und Regisseur Andrew Stanton - ihre Zeichner tagelang in die großen Aquarien und auf Scuba-Tauchtrips geschickt, mit Unterwasserwissenschaftlern zusammengebracht. Sie haben Erfahrungen gesammelt, die ihren bewegten Zeichnungen eine phantastische Dichte gaben - einen Reichtum, der aus der Einfachheit entsteht: "Wir haben gelernt, mit diesen einsamen Geschöpfen, dass man ganze Bewegungen allein mit den Augen oder dem Mund ausdrücken kann." Es war ihnen wichtig, so viele Sachen in diesen Film zu stecken, dass man sie man beim Sehen gar nicht alle mitkriegen kann - Dinge, die manchmal halt nur Wissenschaftler erfreuen und verblüffen. Ein Luxus, eine Verschwendung, die auch den Ton des Erzählens bestimmt. Es sind diese Elemente, die den Film so groß machen - auch wenn er ansonsten genügend Schauwerte hat: Begegnungen mit riesigen Haien - Bruce heißt der größte, nach dem Jaws-Modell - und einem Wal, ein tödlicher Quallenschwarm, ein gesunkenes U-Boot mitsamt Minenfeld.

Die Pixar-Leute haben mit der Technik auch die Moral des filmischen Erzählens revolutioniert. Der väterliche Clownfisch Marlin ist eine typische Disney-Figur, aber in seiner Geschichte dominiert am Ende eine andere Gestalt - durch die Disneys patriarchalisches Imperium zersetzt wird. Für die Lässigkeit, den lockeren Umgangston im Film sorgt das Doktorfisch-Girl Dorie, deren physisches Gebrechen - absolutes Kurzzeitgedächtnis - sich in einen charmanten Vorteil verwandelt. Ihr zusammenhangloses Plappern, ihr Durcheinander von Vergessen und Erinnern macht sie frech und traurig zugleich. Sie ist das Kind des postmodernen Zeitalters, das von seiner Informationsflut verfolgt, von seinen Wissensleviathan gefressen wird. Man folgt ihrem Diskurs wie man dem Spiel der Lichtreflexe auf dem Meeresboden folgt, den die Pixar-Leute mit grandioser Leichtigkeit und Liebe zeichnen. Der Kampf geht nicht nur gegen die Darlas der Welt, er geht auch um die verschwindenden Details.

FINDING NEMO, USA 2003 - Regie: Andrew Stanton. Ko-Regie: Lee Unkrich. Buch: A. Stanton, Bob Peterson, David Reynolds. Kamera: Sharon Calahan, Jeremy Lasky. Musik: Thomas Newman. Deutsche Stimmen: Christian Tramitz, Anke Engelke, Domenic Redl, Erkan & Stefan. Buena Vista, 104 Minuten.

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