Süddeutsche Zeitung

Im Kino: "Ema" aus Chile:Die Frau mit dem Flammenwerfer

Lesezeit: 4 min

Pablo Larraíns Film "Ema" erzählt von einer Tänzerin, die männlichen Fantasien nicht gehorchen will.

Von Philipp Stadelmaier

Majestätisch schwebt die brodelnde Sonnenkorona als Videoprojektion über der Bühne. Immer wieder wechselt sie die Farbe, von Gelbrot über Grün zu frostigem Blau, ein Zentralgestirn, das die Tänzer umkreisen wie Planeten. Mal fließend, meditativ und langsam, dann wieder eruptiv, abgebrochen, verzweifelt in ihren Bewegungen.

Unter den Tänzerinnen sticht eine heraus: eine junge Frau mit dunklen Augen und schlohblonden, nach hinten gekämmten Haaren. Ein wenig erinnert sie an Madelaine in Hitchcocks "Vertigo": bleich, geheimnisvoll, fantastisch - und doch sehr real. Ema, gespielt von Mariana Di Girolamo, ist das Zentrum des Films. Sie kreist mit den anderen um die Sonne, doch die anderen kreisen vor allem um sie - die Kollegen in der Tanzcompagnie, ihr Mann, der auch ihr Choreograf ist, und die Frauen und Männer, mit denen sie Affären und Beziehungen eingehen wird.

"Ema" heißt auch der Film des chilenischen Filmemachers Pablo Larraín, der letztes Jahr auf den Filmfestspielen von Venedig lief. Larraín hat Spielfilme über Jackie Kennedy und Pablo Neruda gedreht, über die Geschichte der Pinochet-Diktatur und die Vergehen katholischer Priester in Chile. Sein neues Werk ist ganz und gar der Gegenwart gewidmet, und diese wird vor allem verkörpert von der jungen Frau, deren Porträt er hier zeichnet.

Anfangs sehen wir eine Ampel in Flammen stehen, auf einer nächtlichen, leeren Straße der chilenischen Stadt Valparaíso. Die Kamera fährt zurück, bis Ema in Feuerschutzmontur erscheint, bewaffnet mit etwas, was wir zuerst für einen Feuerlöscher halten und später als Flammenwerfer identifizieren. Diese junge Frau ist nicht in die Welt gekommen, um Brände zu löschen, sondern um welche zu legen. Doch nur, um die Welt und sich selbst wieder ein wenig ins Gleichgewicht zu bringen.

Denn Emas Welt ist aus den Fugen geraten. Der Geschichte, die Larraín erzählt, geht ein Trauma voraus, das nie gezeigt wird. Ema ist mit Gaston (Gael García Bernal) zusammen, dem künstlerischen Leiter der Tanztruppe. Die beiden hatten einen Adoptivsohn. Eines Tages, so erfahren wir nach und nach, hat der Sohn Feuer gelegt, wobei Emas Schwester das halbe Gesicht verbrannt ist. Emas Reaktion hat die Sache weiter verschlimmert, sie hat den Jungen erneut zur Adoption freigegeben. Nun will sie das Kind unbedingt wieder zurück.

Ema und Gaston machen sich Vorwürfe, die sie an sich selbst richten, an sich ans Paar, an den anderen. Wie konnte der Junge das machen? Und warum haben sie ihn im Stich gelassen? Mit atemberaubender Genauigkeit inszeniert Larraín die fließenden Wechsel innerhalb eines Gesprächs, in dem aus Streit Versöhnung und dann wieder Streit wird. Es ist ein Kino, in dem, wie bei Ingmar Bergman, jeder Moment in einer Beziehung nur für sich steht, weil man nie wissen kann, was auf ihn folgen wird: ein Kino des Augenblicks und seiner äußersten Fragilität. Jede Reaktion, die die Wogen glättet, ist schon zu viel, immer schon Überreaktion. Ist einmal kurz ein Gleichgewicht hergestellt, schlägt die Wage sofort wieder aus.

Dieser Tanzfilm zelebriert ein Kino des Augenblicks und seiner äußersten Fragilität

Zwischen der weiblichen Jugend, verkörpert von Ema und den anderen Tänzerinnen, und dem älteren Gaston verläuft aber auch eine Trennlinie, in der sich aktuelle identitätspolitische Debatten verdichten. Gaston will eine Performance machen mit Folklore und Blasmusik. Die Frauen werfen ihm Naivität und kulturelle Aneignung vor. Er sei wie ein Tourist, der im Hafen ankommt, nichts versteht von dem, was er sieht, und es trotzdem für seine Kunst adoptiert. Das Programm der Frauen besteht aus Reggaeton, Polybeziehungen, einem freien Ausdruck der Körper und der Verschmelzung von Sex und Tanz. "Irgendwann hatte jemand einen Megaorgasmus", so beschreibt eine Freundin von Ema die Musik, die sie inspiriert. "Und diesen Orgasmus tanzen wir heute."

Die Trennlinie verläuft entlang der Geschlechter und Altersgruppen, die nah beieinander liegen, kaum verschiedenen "Generationen" angehören. Gaston ist nur etwas älter als Ema, Bernal verleiht ihm die leicht ergraute Sexyness eines unvermindert jugendlich wirkenden Hipsters. Dennoch wirkt er angestaubt - was vor kurzem als progressiv galt, ist es schon nicht mehr. Sein Argument klingt feministisch, zementiert jedoch Frauen als Opfer: Ihr degradiert euch zu Sexobjekten, imitiert frauenverachtende Musik. Die Entgegnung der Frauen: Kein Mann hat das Recht, uns zu sagen, wie wir tanzen, lieben oder Sex haben sollen. So steht der männliche Choreograf, der seine Rolle des geschmackssicheren, politisch bewussten Künstlers retten will, den Frauen gegenüber, die keine Lust mehr haben, seine Fantasien zu tanzen. Doch es geht nicht um identitätspolitisch abgegrenzte Bubbles, sondern um einen dynamischen Streit, in den Begehren, Körperlichkeit und Beziehungen mithineinspielen.

Einmal flaniert Ema mit Gaston an einer Hafenbalustrade entlang. Sie küsst ihn, aber schon zieht es sie weiter, und die Kamera dreht sich mit und folgt ihr, zum nächsten Körper, zum nächsten Ort. Tanzend, liebend, streitend landet Ema in einer Fabrikhalle, auf einem Bolzplatz oder auf einem Dach über der Hafenstadt, im Bett und schließlich in der Schule, wo sie aus heiterem Himmel einen Job als Tanzlehrerin sucht. Immer im Modus der Lust und der Rebellion. Immer mit einem Flammenwerfer in der Nähe.

Die Beleuchtung bei einer Party oder einer Performance, die bunten Lichter an den Balkonen über einer Straße, der schimmernde Nachthimmel über der Hafenstadt: Valparaíso ist hier nicht einfach eine Stadt, sondern eine leuchtende Galaxie, ein ganzes Universum. Dieses kommt einem lange äußerst ungeordnet vor. Bis man feststellt, dass es nach Gesetzen funktioniert, die sich uns (und den meisten Figuren) entzogen haben - hinter denen aber die Frau mit dem Flammenwerfer steckt.

Ema , Chile 2019. - Regie: Pablo Larraín. Buch: Larraín, Guillermo Calderón, Alejandro Moreno. Kamera: Sergio Armstrong. Mit Mariana Di Girolamo, Gael García Bernal. Kochfilms, 102 Min.

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Quelle:
SZ vom 21.10.2020
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