Im Kino: "Ein Prophet":Die Bestie als Untertan

Wie ein 19-jähriger Analphabet in sechs Jahren zum gefährlichsten Kriminellen Frankreichs wird, zeigt Jacques Audiards Gefängnisfilm Ein Prophet.

Tobias Kniebe

Sechs Jahre also. "Diesmal richtig", sagt der Pflichtverteidiger, "mit den großen Jungs". Noch die Unterschrift für die Kostenerstattung, dann ist er weg.

Die Stimmung dieses Anfangs ist unaufgeregt. Da wird einer durchgereicht, aus den französischen Banlieues, aus der großen Perspektivlosigkeit, aus dem Jugend- in den Erwachsenenstrafvollzug. Ein Drama ist das nicht. Es ist nur ein weiterer Schlag in dieses junge, bleiche, eigentlich eher weiche Gesicht, noch verquollen von den Schlägen davor. Durchs Gitter des Gefangenentransports sieht man Sonnenlicht vorbeiflirren, einen Park, Mütter mit Kinderwägen. Dann wieder grüngraues Neonlicht, einrastende Sicherheitsbolzen, hallende Schritte. Seltsamer Titel: "Un prophète".

"Kannst du irgendwas, außer Flics angreifen?", fragt der Gefängnisbeamte. Reflexhafte Unschuldsbeteuerung. Jaja. Maul halten. Egal jetzt.

Die Kraft des klassischen, sorgfältigen Kinoerzählens ist die, dass man als Zuschauer nach fünf Minuten ganz im schmächtigen Körper dieses neunzehnjährigen jungen Analphabeten steckt. Malik sein Name. Arabischer Migrationshintergrund, entwurzelt, orientierungslos, im Grunde ohne Vergangenheit.

Oder besser gesagt ist diese Vergangenheit so trist, dass sie jetzt keine Rolle mehr spielt. Gelernt hat Malik, dass überall harte Regeln gelten, die man kennen muss, wenn man nicht untergehen will. Auch hier wird er lernen, er wird beobachten, mit großen Augen, die fast nichts über sein Inneres verraten. Er wird tun, was ihm gesagt wird. Er wird seine Schlüsse ziehen. Jede rechtzeitige Erkenntnis ist ein Überlebensvorteil.

Ein klares Programm, das schon immer, und immer wieder, auch als Identifikationsprogramm funktioniert: Tony Montana war so ein Lernender in einer Welt namens Amerika, und die Stadt Miami erschien ihm wie ein Frau, die genommen werden wollte; Michael Corleone war so ein Lernender in einer Welt namens Cosa Nostra, und diese Welt war im Grunde ein sizilianisches Dorf, in der dir einer den Bruderkuss geben konnte und trotzdem dein Mörder war.

Tony Montana und Michael Corleone taten, was getan werden musste - die Zuschauer immer fest an ihrer Seite. Auch dann, als sie aufstiegen, Lehrgeld bezahlten, ohne draufzugehen, Macht erlangten, schließlich legendär wurden für ihre Konsequenz und ihre Grausamkeit: Scarface. Der Pate.

Vielleicht funktioniert das so gut, weil es das Programm der Evolution selbst ist. Irgendwo wird man reingeworfen. Der Knast ist natürlich ein tolles Beispiel, alles konzentriert auf engstem Raum. Es kann aber auch die Welt sein. Dieses Geworfensein, wie Heidegger sagen würde, gilt es vorurteilsfrei als gegeben hinzunehmen: Schauen und Lernen in einer durchaus feindlichen Umgebung. Lang genug überleben, um die Regeln zu verstehen - und im entscheidenden Moment zu modifizieren. Das ist der Augenblick, wo man dann vom Lehrling zum Gesellen wird. All die großen Filme der Patenwerdung, sie handeln im Grunde von der Überlegenheit des Verstandes, von der Kraft des Willens, der sich viel stärkere Bestien Untertan macht.

Der Pate als junger Mann

Kein Wunder also, dass Al Pacino, dieser Hänfling, dem Paten als jungem Mann seine gültige cinematographische Form gegeben hat. Kein Wunder auch, dass der junge, bislang fast unbekannte Franzose Tahar Rahim, der hier die Hauptrolle spielt, so stark an den jungen Al Pacino erinnert. Es funktioniert.

Wenn Malik nun also ganz unten und scheinbar ganz schutzlos ist, wenn stärkere Gefangene seine neuen Schuhe von ihm fordern oder Sex gegen einen Krumen Haschisch, und wenn er auf all das keine Antwort hat - dann weiß man doch, dass für diesen Mann noch nichts verloren ist. Er sucht nur diese eine Chance, die es ihm erlauben wird, von Level Null auf Level Eins vorzurücken.

Die Chance kommt in Gestalt einer tödlichen Drohung. Die Bande der brutalen Korsen, die den Knast regiert, geführt von einem älteren Paten namens César Luciani, will einen Mitgefangenen aus dem muslimischen Flügel beseitigt wissen. Dieser Luciani, der von Niels Arestrup mit der Geduld, der lauernden Überlegenheit, der Schnelligkeit einer alten Echse großartig gespielt wird, hat ein Auge auf Malik geworfen - er soll der Mörder sein. Vielleicht, weil er den Zugang hat; oder weil er unverdächtig genug ist; oder weil Luciani schon etwas Größeres in ihm sieht.

Malik prüft, ob es hier einen Ausweg gibt. Der Wärter, dem er sich anvertraut, ist aber selbst Teil des Systems. Er wiederholt nur die Botschaft des Paten: Töte, oder du wirst selbst getötet werden.

Also tötet Malik. Mit einer hauchdünnen Rasierklinge, die er in seinem Mund versteckt. Der Mord wird eine schreckliche Sauerei. Das Blut spritzt dunkelrot aus der Halsschlagader, das Opfer zuckt und zuckt, es muss umarmt und zu Boden gedrückt werden, bis es sich endlich nicht mehr regt.

Aus diesem Moment erwächst aber auch Maliks Wille, Lesen zu lernen, das Denken der Korsen zu durchschauen, Freiräume zu gewinnen, Allianzen zu schmieden, zur Not auch mit den Islamisten, Menschen zu manipulieren. Sein unaufhaltsamer Aufstieg hat begonnen.

Und doch wird der Ermordete ihm immer wieder als Geist erscheinen. Am Hals klafft noch die Wunde, aber er scheint nicht böse zu sein. Auch Malik begegnet ihm weder mit Erschrecken noch Bedauern. Er nimmt ihn hin, wie er alle Tatsachen hinnimmt in seiner seltsamen, amoralischen Welt.

Aber natürlich gewinnt der Film in diesem Moment seine spezifische Handschrift. Der Regisseur Jacques Audiard, aus altem französischen Cineasten-Adel, ist vom Genrefilm fasziniert und fügt diesem doch immer eine Dosis eigenbrötlerische Obsession hinzu - zuletzt in "Der wilde Schlag meines Herzens" von 2005. Dass er seinen Protagonisten in "Un prophète" Geister sehen lässt, die ihm dann ihrerseits so etwas wie einen Blick in die unmittelbare Zukunft erlauben, eine Art zweites Gesicht, rechtfertigt nicht nur den unerwarteten Titel des Films. Es ist auch die richtige Art von Verstörung, die den ansonsten peinigend realistischen Filme reicher und tiefer macht. Ein Großer Preis der Jury in Cannes, ein Bafta-Award, eine Oscarnominierung, zuletzt nicht weniger als neun französische Césars zeigen, welche Kraft in dieser Mischung steckt.

Auch die großen mythologischen Versprechungen, die so eine Überlebens- und Aufstiegsgeschichte weckt, enttäuscht Audiard nicht. Vom symbolischen Vatermord über den Ritus der Machtergreifung bis zum Tag der großen Abrechnung - alles ist drin. Der Mann, der am Ende aus dem Knast entlassen wird, ist schließlich der gefährlichste Kriminelle Frankreichs - und zugleich eine der reichsten und vollständigsten Kinofiguren, die man seit langem gesehen hat. Sechs Jahre also. Mehr braucht es nicht.

UN PROPHÈTE, F/I 2009 - Regie: Jacques Audiard. Buch: Audiard, Thomas Bidegain. Kamera: Stéphane Fontaine. Musik: Alexandre Desplat. Mit Tahar Rahim, Niels Arestrup, Abdel Bencherif, Reda Kateb, Hichem Yacoubi. Verleih: Sony, 155 Minuten.

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