Im Kino: Drei:Du oben, ich unten

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Zwei Männer, eine Frau: Tom Tykwer spinnt eine Dreiecksgeschichte um Devid Stresow und streut Schicksalsschläge übers Drehbuch wie Würzmittel gegen die große Fadheit. Geht so wahres Kino?

Tobias Kniebe

Die Mutter hat Krebs, im Endstadium. "Und das sagst du mir jetzt?" erregt sich der Sohn. So beginnt eine Sequenz in Tom Tykwers "Drei". Ein paar Schnitte weiter schluckt die Mutter schon Schlaftabletten, wird aber entdeckt. In der Klinik pumpt man ihr den Magen aus. Jetzt ist sie hirntot. Momente später liegt sie bereits zu Hause. Dort gibt der Sohn ihr Sterbehilfe, schaltet alle Geräte ab. Dann eilt er hinaus auf die Straße, wo ihm die Verblichene als Engel erscheint und Hermann Hesses "Stufen" zitiert.

Sebastian Schipper (links) ist in "Drei" eigentlich mit Sophie Rois zusammen. Damit aus der Begegnung mit Devid Striesow eine echte Dreiecksgeschichte werden kann, muss er erst einmal bisexuell werden. (Foto: dapd)

Draußen bricht er unter Krämpfen zusammen. Aber nicht wegen Hesse, nicht einmal aus Trauer oder schlechtem Gewissen. Wie sich herausstellt, hat er selbst Krebs, Hodenkrebs. Schon wieder ein Arzt. Sofort operieren! Die Freundin weiß noch von nichts, aber sie geht nicht ans Handy, sie flirtet mit einem anderen. Egal, schon wird das Skalpell angesetzt. Sekunden später ploppt etwas Rundes und Blutiges in die OP-Schale.

Es fehlte die Gelegenheit, in der Hektik des Geschehens auf die Uhr zu schauen, aber schätzungsweise vergehen dabei zehn Minuten Kinozeit. Vielleicht auch fünfzehn. Man bleibt ein wenig sprachlos zurück und muss an "Lola rennt" denken, jenen zwölf Jahren alten Film, der Tykwer den Durchbruch brachte. Damals feierte sie Premiere, diese besondere Art der Tykwerschen Schicksalsverdichtung; damals erlaubte sie es ihm, denselben Film innerhalb von 81 Minuten dreimal zu erzählen und die Lebensläufe von Randfiguren in einer Art Blitzlichtgewitter bis auf wenige Sekunden einzudampfen.

Alles beim alten also für Tykwer und seine Schnittmeisterin Mathilde Bonnefoy, die schon bei "Lola rennt" dabei war? Nicht ganz. Was seinerzeit ein munteres, kaum noch zu steigerndes Spiel war, das in der Konsequenz die Figuren zeitweise in Comic-Strip-Charaktere umschlagen ließ, zeigt heute einen Touch von Ratlosigkeit und Verunsicherung.

Beinahe in jedem Interview spricht Tykwer von der herrlichen Macht der Schicksalsschläge, die seine Geschichten aus dem Alltagstrott reißen, das sicher Geglaubte zerstören, eine Selbstbefragung erzwingen. Der Subtext ist immer: Das, was ist, genügt nicht. Was uns hier und heute, in unserer Berlin-Mitte-Blase, die wir Leben nennen, plausiblerweise in zehn Minuten Kinozeit zustoßen könnte - damit brauchen wir gar nicht erst zu kommen. Das wahre Kino fängt irgendwo anders an. Da muss man schon ein bisschen verdichten.

Aber stimmt das denn? Kann man Schicksalschläge übers Drehbuch streuen wie Würzmittel gegen die große Fadheit? Und: Tun die vielgelobten Fernsehserien aus den USA, dieser süchtigmachende Stoff, den alle sich so gern in der konzentrierteren Form von DVD-Boxen reinziehen, eigentlich etwas anderes?

Vielleicht erschöpft sich da gerade etwas, was das Kino betrifft. Beim Festival von Venedig ist Tykwer gegen Sofia Coppolas "Somewhere" angetreten. Sie hat dieselbe Diagnose: Das, was ist, genügt nicht. Aber sie gibt eine völlig konträre, entschleunigte und entdramatisierte, von Schicksalsschlägen geradezu bereinigte, trotzdem unglaublich starke Antwort, die den "Goldenen Löwen" gewonnen hat. Wo dort das wahre Kino anfängt? Keine Ahnung, würde Sofia Coppola wahrscheinlich sagen und dazu die Stirn runzeln: Seltsame Streberfrage.

Lesen Sie auf der nächsten Seite, warum man Tom Tykwer dann doch ziemlich viel verzeihen kann.

Deutsche Trend-Schauspieler
:Platz, Hirsch!

Das merkwürdige Verhalten gewinnbringender Schauspieler zur Paarungszeit: Wer gehört zur deutschen Top-Liga? Und von wem kann man sicher sein, dass er im nächsten deutschen Film auch wieder mitspielen wird? Die Bilder.

Nun lässt sich "Drei", glücklicherweise, nicht auf diesen einen Aspekt reduzieren. Zwei Seelen wohnen schon immer in Tykwers Brust: Einmal dieser unbedingte Formwille, der die wilde Erfindung fordert, das Filmzitat, das Konstrukt. Da ist er der Selfmade-Cineast, der sein Spielzeug umklammert, wenn die Wahrscheinlichkeit ihr hässliches Haupt erhebt. Andererseits hat er auch jahrelang einen Logenplatz in der Programmkino-Realität gehabt, als Macher des "Moviemento"-Kinos in Berlin. Dort starben sie im Wochenrhythmus vor seinen Augen, die hochfliegenden Ideen, die Filmkunstwerke ohne Anschluss an die Wirklichkeit. Da hat er sein Publikum kennengelernt, besser als die meisten in diesem Geschäft. Über diese Erfahrungen kann er bis heute verfügen.

Gesucht wird: Errettung

Denn tatsächlich blendet man schnell die ganz großen Fragen von Leben und Tod, Siechtum und Heilung, Gentechnik und Abtreibung - und was Tykwer sonst noch so alles hineingepackt hat - eher aus. Das schafft Raum für die Beziehungsgeschichte, die sich versuchsweise zu einer Dreiecksgeschichte ausweitet. Das alte Paar-Ding, wie es die Stimme des Helden, über einem Blick aus dem Zugabteil, schon am Anfang rezitiert: "Du oben. Ich unten. Harmonie. Friktion. Symmetrie. Entspannung. Trott. Flucht. Heimkehr. Fremdgehen. Bereuen. Nicht zusammenziehen. Keine Kinder. Doch zusammenziehen. Kein Sex. Weiter. Älter. Weiter. Langsamer." Oder so ähnlich. Gesucht wird: Errettung.

Das Paar, um das es geht, kann die Herzen und Lacher leicht für sich gewinnen, wenn Tykwer das möchte. Und er möchte ja doch. Er hat so eine Art, seine Schauspieler extrem zu fordern und zugleich zu erden. Alles gegen das Klischee zu inszenieren und trotzdem millimetergenau in den Konsens der Wiedererkennbarkeit hineinzutreffen. Sophie Rois, der Theaterstar, und Sebastian Schipper, der Regiekollege, sind dafür perfekt.

Einmal kräht Rois "Echt?" und spuckt dabei fast ihre Currywurst aus - als Schipper sie daran erinnert, dass sie in diesem Moment zwanzig Jahre zusammen sind. Er, beinhart unterspielt: "Sollen wir nicht endlich mal heiraten?" Und sie, kauend, man würde schwören, dass sie tatsächlich kurz nachdenkt, dann ganz schlicht: "Okay".

Mit diesen beiden, zwei Kulturarbeitern in Berlin-Mitte, deren Leben nicht wie üblich nur den hässlichen Hintergrund abgibt, vor dem ein neues Glück umso heller strahlen soll, lässt sich so einiges anstellen. Und das passiert dann auch. Sie verlieben sich, in einer irren Häufung von Zufällen, in denselben Mann - wofür die Schipper-Figur erstmal bisexuell werden muss. Dieser Neue ist, in seiner zweigeteilten Aufmerksamkeit, seiner Freundlichkeit, seiner Anziehungskraft, erneut eine Art Konstrukt: Gentechniker. Motorradfahrer. Chorsänger. Karatekämpfer. Schwimmer. Sexathlet. Teilzeit-Vater. Exfrau-Versteher. Status-Minimalist mit halbleerer Wohnung. Liest "Moby Dick", aber auf dem elektronischen Kindle-Reader. Schafft es der immer großartige Devid Striesow - diese Frage steht eine Weile nervös im Raum - auch diese Figur annähernd auf Bodennähe herunterzuholen? Er schafft es.

Und hast du nicht gesehen ...

So verzeiht man diesen Dreien viel und gönnt ihnen eigentlich fast alles - sogar den Vorschein der Utopie, das mögliche Glück zu dritt, dass am Ende zumindest nicht sofort dementiert wird. In all den Jahren - sagen wir, seit "Jules und Jim" - sollten wir ja doch ein bisschen vorangekommen sein. Und gelernt haben, nicht jede Abweichung von der Norm in unseren Geschichten gleich mit Pathologie und Schmerz zu bestrafen.

Wobei . . . über die letzten friedlichen, honigwarmen Nacktaufnahmen des Films legt sich dann plötzlich eine fremde Vision, eine Art Fiebertraum, der ganz dem verwirrten Hirn des Kritikers entspringt. Da platzt der große Rainer Werner Fassbinder mitten in die Szenerie, durchbricht die Illusion.

Da steht er nun also im Studio, zwischen Scheinwerfern und Kamera. Leder auf nackter verschwitzter Haut, aus dem Grab entstiegen. "Cut", raunzt er durch seinen Fusselbart. "Jetzt mal Schluss mit den Kindereien". Dann kündigt er allen Anwesenden, inklusive dem Regisseur, sofortigen harten Sex an. In echt. Und hast du's nicht gesehen, sind sie alle verschwunden.

DREI, D 2010 - Regie und Buch: Tom Tykwer. Kamera: Frank Griebe. Schnitt: Mathilde Bonnefoy. Mit Sophie Rois, Sebastian Schipper, Devid Striesow, Annedore Kleist. X-Verleih, 119 Minuten.

© SZ vom 22.12.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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