Im Kino: "Die Stadt der Blinden":Blinde Gewalt

Es sieht schlecht aus für die Menschheit: Immer schneller schreiten Verfall und Katastrophen voran. Im Endzeitepos "Die Stadt der Blinden" wird die Sehkraft für Julianne Moore zum Fluch.

Anke Sterneborg

Verwüstete Städte, die von Verhungernden nach den letzten Vorräten durchforstet werden. Verwaiste Straßen, Autowracks, Menschen, die im Kampf ums Überleben zu marodierenden Bestien geworden sind.

Im Kino: "Die Stadt der Blinden": Finden sich in Windeseile in Sodom und Gomorrha: Der erblindete Augenarzt (Mark Ruffalo) und seine sehende Frau (Julianne Moore).

Finden sich in Windeseile in Sodom und Gomorrha: Der erblindete Augenarzt (Mark Ruffalo) und seine sehende Frau (Julianne Moore).

(Foto: Foto: Kinowelt)

Hier und da eine zaghaft wuchernde Natur, die sich ihr Terrain langsam von der Zivilisation zurückerobert: Immer grimmiger und beklemmender werden die literarischen und filmischen Endzeitvisionen.

In Filmen wie "28 Days Later" oder "Children of Men" widersetzen sich wenige Überlebende der Katastrophe, und in "I Am Legend" sieht es lange so aus, als sei Will Smith der letzte Mensch auf Erden. Selbst im sonst eher lieblichen Animationsfilm wird das Schreckensbild einer unbewohnbaren Erde entworfen, auf der ein einsamer Roboter namens "Wall-E" noch die Schrottberge der Menschheit abarbeitet.

Und wenn bald in der Verfilmung von Cormac McCarthys "The Road" Vater und Sohn durchs verwüstete Amerika wandern, ist das alles andere als ein romantisches Abenteuer in der Wildnis.

Friedliches Krankheitsbild

Es sieht schlecht aus für die Menschheit, immer schneller und nachhaltiger schreiten Verfall und Verwüstung voran, und angesichts allgegenwärtiger Schreckensmeldungen von Kriegen, Krankheiten und Klimakatastrophen ist die Apokalypse nah an die greifbare Gegenwart herangerückt.

In all diesen vernichtend realistischen Visionen geht es für die letzten Aufrechten vor allem darum, neben dem blanken Überleben noch einen Rest von Menschenwürde zu retten.

Dafür hat auch José Saramago in seinem Roman "Die Stadt der Blinden" ein starkes Motiv gefunden, bei ihm gibt es keine gefräßigen Monster und keinen aggressiven Virus. Um den psychischen und physischen Verfall der Menschheit auszumalen, reicht ihm ein im Grunde friedliches Krankheitsbild: In einer ort- und namenlosen Großstadt breitet sich die Blindheit aus wie eine Seuche.

Urplötzlich, am Steuer ihres Autos, auf der Straße, am Arbeitsplatz, im Bett, in der Küche sehen die Menschen nichts mehr, doch bei Saramago ist die Blindheit nicht Düsternis, sondern weißes Gleißen, eher Reizüberflutung als ewige Nacht.

Die Panik, die dieser rätselhafte Zustand der Hilflosigkeit auslöst, veranlasst die Regierung, die Kranken in grausigen Lagern zu internieren wie Tiere, da klingt ein Echo des frenetischen Horrors nach, den der spanische Film "(rec.)" in einem abgeriegelten Mietshaus entfesselte, demnächst kommt das US-Remake "Quarantäne" in unsere Kinos.

Lesen Sie auf der zweiten Seite, wie der Kameramann die Orientierungslosigkeit der Blinden auf den Zuschauer überträgt.

Blinde Gewalt

Darum, wie schnell die Angst jeden Funken von Menschlichkeit ausmerzt, ging es auch schon in den Horrorvisionen von Danny Boyle in "28 Days Later" und Eli Roth in "Cabin Fever", die wiederum von den realen Erfahrungen mit Aids und Sars inspiriert waren.

Eine kleine Minderheit von Blinden verkraftet eine funktionierende Gesellschaft gerade noch, doch wenn sich die Verhältnisse umkehren, und eine einzige Sehende (Julianne Moore) unter lauter Blinden lebt, dann verwandelt sich eine gerade noch zivilisierte Stadt in Windeseile in Sodom und Gomorrha, in eine gewalttätige Anarchie, in der die Menschen wie reißende Wölfe im Dreck vegetieren.

Massenhafte Blindheit ist auch für den Regisseur eine Herausforderung, nicht zuletzt darum hat Saramago die Verfilmungsrechte seines 1995 erschienenen Romans lange verweigert, bevor er sich von dem kanadischen Autor und Schauspieler Don McKellar und dem brasilianischen Regisseur Fernando Meirelles dann doch überzeugen ließ.

In "City of God" brachte Meirelles die Favelas von Rio mit dokumentarischer Direktheit zum Kochen, aller Gewalttätigkeit zum Trotz verströmte der Film eine irre, lebenssprühende Energie. Jetzt, unter den Erwachsenen in der "Stadt der Blinden" ist diese Energie erstickt, was bleibt, ist eine blinde, destruktiv lärmende Gewalt, ein letztes Aufbäumen vor dem Untergang.

Aus den Fugen

Wie in vielen der modernen Endzeitvisionen sind auch bei ihm die Farben ausgebleicht, die Bilder verstaubt, die Kleider zerschlissen, die Häuser verwahrlost.

Zusätzlich sind die Konturen verwischt, ist die Kadrage aus den Fugen, fast so als habe ein Blinder die Kamera geführt. In der Tat überträgt Meirelles Stammkameramann César Charlone die Orientierungslosigkeit der Blinden ganz direkt auf den Zuschauer.

Eine Herausforderung ist der Zustand der Blindheit auch für das Ensemble großartiger Schauspieler wie Mark Ruffalo, Gael García Bernal, Alice Braga, Danny Glover und Maury Chaykin, die allesamt mit den Augen nicht nur ein wesentliches Instrument ihres Spiels verlieren, sondern darüber hinaus auch noch die Reaktionen ihrer Mitspieler.

Bisweilen entsteht der Eindruck, es handele sich um ein Laborexperiment für angehende Schauspieler, das sich Stella Adler oder Lee Strasberg nicht besser hätten ausdenken können. Für Julianne Moore wird die Sehkraft zum Fluch, denn als einzige Sehende unter den Blinden ist sie zugleich übermächtig und machtlos.

Blindness, USA 2008 - Regie: Fernando Meirelles Buch: Don McKellar, nach José Saramago. Kamera: César Charlone. Mit Julianne Moore, Mark Ruffalo, Alice Braga, Danny Glover, Gael García Bernal. Verleih: Kinowelt, 120 Minuten.

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