Harter Toback, dieser Anfang: Da kündigt ein elfjähriges, blond gelocktes Mädchen vor laufender Videokamera an, dass sie ihrem Leben ein Ende setzen wird, an ihrem zwölften Geburtstag - in 165 Tagen. Auf keinen Fall möchte Paloma wie ihre Eltern werden - und das Leben eines Goldfischs im Glas führen, der immer wieder mit dem Kopf an unsichtbare Wände stößt. Der Tod als kokettes Spiel mit dem Anderssein, als äußerste Form der Verweigerung.
Auf den ersten Blick bedient Madame Michel alle Klischees
Das Debüt der Regisseurin Mona Achache basiert auf dem erfolgreichen Roman "Die Eleganz des Igels" von Muriel Barbery. Statt ein geschriebenes Tagebuch zu führen, wie die kleine Heldin der Buchvorlage, vermisst und verwaltet die Paloma des Films die Welt mit der Videokamera. Und während sie sich auf diese Weise vom Leben und der Welt verabschiedet, entdeckt sie bei ihren Streifzügen unerwartet zwei Seelenverwandte: die grantige Madame Michel, die auf den ersten Blick alle Klischees bedient, die man mit dem Typus der französischen Concierge verbindet - und den geheimnisvoll distinguierten Japaner Kakuro Ozu, der gerade neu in das herrschaftliche Pariser Haus eingezogen ist.
So sperrig und widerspenstig diese drei auf den ersten Blick auch sein mögen, durch ihre spezielle Sicht der Dinge und ihren unkonventionellen Lebensstil brechen sie auch die Sehgewohnheiten der Zuschauer auf - und enthüllen verborgene Welten, eine Poesie, die in ihrer dezent verspielten Art bisweilen an den Regisseur Michel Gondry erinnert. So lässt Paloma geometrische Ornamente und Piktogramme über ihre Kinderzimmerwände wuchern, ausgehend von einem Lichtschalter breitet sich das Muster immer weiter aus. Oder sie malt Quadrate, mit denen sie den Countdown ihrer verbleibenden Lebenstage abzählt. Es lohnt sich in diesem Film, immer wieder den Blick schweifen zu lassen und an den Rändern des Geschehens die kleinen Wunder aufzuspüren. Genauso entdecken auch Paloma und der Japaner hinter der schroffen Fassade von Madame Michel den verborgenen Feingeist, ihre Liebe zur Literatur, ihr Gespür für Musik und ihre Leidenschaft für die Filme von Yasujiro Ozu.
Auf der Toilette Musik von Bach
Mit seiner zuvorkommenden Art lockt der japanische Gentleman die abweisende Concierge aus ihrem Schneckenhaus heraus. Wenn er ihr vor dem ersten Rendezvous eine Tüte mit lauter kunstvoll verhüllten Kleiderpäckchen übergibt, wird er zu einer sehr zurückhaltenden Variation jenes Kinomärchenprinzen, der auch das Leben der "Pretty Woman" seinerzeit auf den Kopf gestellt hat. Spät im Leben gönnt sie es sich, viele Dinge zum ersten Mal zu tun: zum Friseur gehen, ein schönes Kleid anziehen, Sushi essen, einen Film im Heimkino sehen, auf der Toilette Musik von Bach hören...
Josiane Balasko, die in Frankreich dafür geliebt wird, dass sie schon manche Randexistenzen aus dem Dunkel ins Licht geholt hat, die solchen Frauen eine beiläufige Würde und selbstverständliche Präsenz verleihen kann, spielt die ruppige Madame Michel wie einen Schmetterling, der sich aus seinem Kokon herausschält. Der Soundtrack von Gabriel Jared löst sie aus der Schwere ihrer Existenz, verleiht ihr mit der Zeit immer größere Leichtigkeit, eine Ahnung von Liebe sogar.
Und wie so oft erweist sich das Kino auch hier als überzeugend darin, seinen Helden einen neuen, unerwarteten Blick auf das Leben zu öffnen. Ein kitschiges Happy End freilich sollte man von diesem unaufdringlich poetischen Film nicht erwarten.
LE HÉRISSON, Frankreich 2009 - Buch und Regie: Mona Achache. Kamera: Patrick Blossier. Schnitt: Julia Gregory. Musik: Gabriel Jared. Mit: Josiane Balasko, Garance Le Guillermic, Togo Igawa, Anne Brochet. Verleih: Senator, 99 Minuten.